Am Anfang schien die Sache klar zu sein. Gar keine Frage, hieß es in Brüssel, Günther Oettinger werde auf jeden Fall Vizepräsident der Europäischen Kommission. Eine Formalie, nichts weiter, denn schließlich übernahm der deutsche EU-Kommissar zum Jahreswechsel die bedeutenden Ressorts Haushalt und Personal. Seine Vorgängerin wechselte zur Weltbank und ließ nicht nur ihre Aufgaben, sondern auch den Vizepräsidenten-Titel zurück in Brüssel. Doch wie es aussieht, bleibt Oettinger die Beförderung verwehrt. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zieht es offenbar vor, das vakante Amt nicht neu zu besetzen - er spart lieber etwa 2000 Euro im Monat an Steuergeld.
Oettinger geht wohl leer aus. Und daran wäre er nicht ganz unschuldig. Der langjährige und einflussreiche EU-Kommissar hatte in letzter Zeit für die ein oder andere Schlagzeile gesorgt, die manche an seinem Politikverständnis zweifeln ließen. Nun war Oettinger schon immer einer, der lieber Klartext redet, als sich hinter angeblich politisch korrekten Phrasen zu verstecken. Doch bei einer Ansprache, die er im Oktober in Hamburg hielt, ging der schwäbische Stakkato-Redner so weit, dass er sich danach entschuldigen musste: "Es war und ist nicht meine Absicht, irgendjemanden mit Bemerkungen zu verletzen."
Was war passiert? Der 63-Jährige hatte Chinesen als "Schlitzaugen" bezeichnet und sich über eine "Homo-Pflichtehe" lustig gemacht. Oettinger sagte nach seiner Rede, er habe "frei von der Leber, as we say in German" gesprochen. Er habe die deutsche Zuhörerschaft aufrütteln wollen. Juncker wiederum verpasste seinem Kommissar einen Maulkorb: Er solle sich nur noch zu Themen äußern, die etwas mit seinem Aufgabenbereich zu tun haben.
Günther Oettinger:Oettinger sprach "frei von der Leber, as we say in German"
Der EU-Kommissar rechtfertigt sich auf Denglisch für seine umstrittene Rede. Vor einer Woche hatte er bei einem Auftritt in Hamburg Chinesen und andere Menschen beleidigt.
Nun, daran hat sich Oettinger noch nie gehalten. In Deutschland sehen ihn viele als "unseren Mann in Brüssel". Dieses Image fördert er nach Kräften. Oettinger hat sich in seinen Wortmeldungen nie auf seine Ressorts, zunächst Energie und dann Digitales, beschränkt. Er versteht sich als europäischer Mahner, der mit Vorliebe Untergangsszenarien einer global abgehängten EU - und damit auch eines zu verschlafenen Deutschlands - entwirft. Das war auch Thema seines denkwürdigen Auftritts in Hamburg.
Die Frage ist, wer für den Nettozahler Großbritannien einspringt
Doch damit nicht genug. Nur zwei Woche nach der Rede kam der nächste Vorwurf. Oettinger musste zugeben, dass er im Privatjet eines früheren Daimler-Managers und russischen Honorarkonsuls mitgeflogen ist, um pünktlich zu einem Abendessen mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nach Budapest zu kommen. Die Ethikregeln für Kommissionsmitglieder verletzte Oettinger zwar nicht, aber seine angebliche Nähe zu Lobbyisten war plötzlich Thema. So ein Mitflug im Privatjet hat eben, wie man in Oettingers schwäbischer Heimat sagt, ein gewisses Gschmäckle.
Davon mal abgesehen würde es genug Gründe geben, um Oettinger zu befördern. Als mächtiger Haushaltskommissar vertritt er die Brüsseler Behörde in den voraussichtlich harten Verhandlungen mit den Mitgliedsländern über den nächsten EU-Haushalt - es wird das erste Budget nach dem Brexit. Die Frage ist, wer für den Nettozahler Großbritannien einspringt. Eine Bewährungsprobe für den Kommissar.
Ein Vizepräsident Günther Oettinger würde für Juncker aber gleich mehrere Probleme mit sich bringen. Um nur zwei zu nennen: Es gäbe nur noch eine Frau unter insgesamt sechs Vize-Präsidenten. Und dann wäre da noch die wohl älteste Regel der Brüsseler Macht-Arithmetik: Einem Deutschen kann man nicht geben, was man einem Franzosen verweigert. Schon gar nicht jetzt, da sich in Paris ein neuer Präsident anschickt, alles für Europa zu geben.