Süddeutsche Zeitung

Nächste Welle der Digitalisierung:Der Schatz im Datensee

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Industrie 4.0 war gestern. Nun geht es für die deutsche Wirtschaft darum, die Chancen künstlicher Intelligenz zu erkennen und in den Kernprodukten zu nutzen. Nicht nur Politiker, auch Unternehmer haben Beratungsbedarf.

Von Joachim Becker

Daten sind das neue Öl - das sagt sich so leicht. Unzählige Studien sprechen vom Schatz im Datensee. Wie man ihn hebt, verraten sie nicht. Die Marktforscher von Gartner prognostizieren etwa, dass bis 2020 jedes zehnte Unternehmen Profite mit der Verwertung seiner Daten machen wird. Die Berater von IDC beziffern den Mehrwert durch maschinelles Lernen bis 2020 auf über 45 Milliarden Euro. Man muss den Schmierstoff für die Weltwirtschaft aber erst einmal fördern, raffinieren und verkaufen; das ist bei Daten nicht anders als beim schwarzen Gold.

Um ein Tiefseereservoir mit 5,7 Millionen ölführenden Zellen dreidimensional zu modellieren und die Produktionsabläufe über 15 Jahre im Voraus zu kalkulieren, braucht es eine Menge Grips. Die italienische Ölfirma Eni setzt dazu den weltweit zehntschnellsten Computer ein. Über Nacht kann der Rechenknecht HPC4 einen Datensee mit 15 Petabyte Speichervolumen leerpumpen - nur geringfügig weniger als die Datenmenge, die Googles Suchmaschine weltweit pro Tag verarbeitet. Mit konventionellen Großrechnern würde die Auswertung der komplexen seismischen Daten mehr als zehn Tage dauern.

Die Fördertechnik für große Datenmengen macht also rasante Fortschritte. Davon profitiert niemand mehr als Amazon, Apple, Alphabet (Google) und Facebook. Mit datengetriebenen Geschäftsmodellen sind sie in wenigen Jahren vom Start-up ganz an die Spitze gelangt. Vor einer Dekade waren fünf der zehn wertvollsten Unternehmen noch Ölfirmen, heute gehört neben den Genannten nur noch Exxon Mobil zu den weltweiten Top Ten.

Nicht umsonst werden die Fördertechniken der IT-Firmen Plattformen genannt. Wie Ölplattformen sitzen sie mit nahezu exklusiven Fördermöglichkeiten auf riesigen Datenseen. Die marktbeherrschende Position der Tech-Giganten droht jeden Wettbewerb im Keim zu ersticken; die Politik ist alarmiert: "Es gibt weltweit einen Wettlauf um die Frage, wer die zentralen Internetplattformen der nächsten Generation entwickelt - die für autonomes Fahren zum Beispiel", mahnt Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU): "Wenn die deutsche Industrie hier mithalten will, muss sie ihren Maschinen das Denken und die Kunst der Selbstoptimierung beibringen." Das gehe nur mithilfe der künstlichen Intelligenz (KI), die Altmaier als "die wichtigste technische Revolution der Gegenwart" bezeichnet. Deutschland ist traditionell stark im Automobil- und Maschinenbau sowie in der industriellen Produktion. Viele mittelständische Unternehmen wissen aber nicht so genau, wie sie die neuesten Technologien gewinnbringend in Anwendungen und Produkte überführen sollen.

Nicht alles, was maschinenlesbar ist, hat auch mit maschinellem Lernen zu tun. Bei der eingangs erwähnten Ölsimulation von Eni handelt es sich eher um eine Form von guter Hauswirtschaft. Der Ölkonzern archiviert seine seismischen Bilder in einem Standardformat. Die strukturierten Daten sind leicht maschinenlesbar, der Rechenalgorithmus bleibt dabei aber unverändert. Etwas anderes ist es, wenn der Supercomputer ein Gedächtnis bekommt und lernt, selbständig die Muster eines Ölreservoirs in den Daten zu erkennen. Ein "intelligenter" Röntgenapparat kann nicht nur Bilder schießen. Idealerweise stellt er per KI-Bilderkennung auch die richtige Diagnose und spuckt noch die besten Heilmethoden bei solchen Krankheitsbildern aus.

"Deutschland muss sich bei KI nicht hinter den USA und China verstecken", betont Professor Wolfgang Wahlster, "die Grundlagenforschung gehört zu den traditionellen Stärken des Standorts." 1988 war er einer der Gründer des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Unter seiner Leitung hat sich das Zentrum mit Standorten in Saarbrücken, Kaiserslautern, Bremen und Berlin zur weltweit größten Einrichtung auf diesem Gebiet entwickelt. Gemessen an den rund 800 Wissenschaftlern und den Forschungsgeldern ist das DFKI das weltweit größte Zentrum für künstliche Intelligenz und deren Anwendungen.

Die großen Unternehmen nutzen KI bereits, es hakt aber am Transfer in den Mittelstand

"Im internationalen Rennen um die Technologieführerschaft muss sich Deutschland auf seine Stärken konzentrieren und die erfolgreichsten Produkte mit KI ausstatten", fordert Wahlster. Doch die Umsetzung läuft je nach Branche und Unternehmen schleppend. "Die aktuelle Paice-Studie zu digitalen Technologien für die Wirtschaft zeigt: Die großen Unternehmen haben KI schon im Einsatz. Der Transfer in den Mittelstand ist aber noch nicht geglückt", sagt der Unternehmensberater Frank Riemensperger. Als Chef von Accenture in Deutschland, Österreich und der Schweiz gehört er zum Lenkungskreis der "Plattform Lernende Systeme". Hier bereiten führende Wirtschaftsvertreter und Fachleute den Digitalgipfel der Bundesregierung vor, der am 3. und 4. Dezember in Nürnberg die Weichen stellen soll.

Angesichts des digitalen Transformationstempos haben nicht nur Politiker, sondern auch Unternehmer Beratungsbedarf. "Wir von Accenture sehen zwei große Einsatzfelder für KI: Das eine ist das Thema Robotics und Automatisierung der Geschäftsprozesse. Das hat noch nichts mit dem jeweiligen Kernprodukt zu tun", so der Digitalexperte. Einsparungen bei Einkaufs-, Logistik- oder Personalprozessen seien schnell und kostengünstig möglich. Software-Plattformen wie SAP Leonardo, Microsoft Azure oder IBM Watson würden dafür eine immer größere Zahl von Lösungen inklusive KI-Werkzeugen bereitstellen. "Wir raten unseren Kunden also erst einmal, das auszuprobieren", sagt Riemensperger: "Gerade in der Automatisierung von Verwaltungsprozessen und bei Sprachbots im Kundenkontakt ist die finanzielle Hemmschwelle sehr niedrig geworden." Zudem gehöre der Umgang mit solchen Software-Werkzeugen mittlerweile zur Standardausbildung von Informatikstudenten.

Ein bisschen mehr Consulting sei nötig, wenn man KI für das jeweilige Kernprodukt nutzen wolle, erläutert Riemensperger: "Ziemlich weit ist beispielsweise die holzverarbeitende Industrie, weil die Maschinen das Schnittdesign schon länger einlesen mussten. So eine Softwareplattform lässt sich durch maschinelles Lernen weiter optimieren." Doppelt so viele Möbelkomponenten in der gleichen Zeit: KI kann die Daten des gesamten Fertigungsprozesses auswerten und den Zufluss sowie Abfluss von Material optimieren. Geringere Umrüst- und Ausfallzeiten der Maschinen steigern die Effizienz, zum Beispiel durch vorausschauende Wartung auf Basis von Sensordaten.

Durchsatzerhöhung als zentrales Leistungsversprechen - damit unterscheidet sich der jüngste Innovationsschub nicht von bisherigen Ansätzen der Digitalisierung. "Bei der Industrie 4.0 wurde viel gemacht, aber sie steht immer noch in einer frühen Phase. Ich betrachte diese digitale Transformation als Aufgabe für eine ganze Dekade." Riemensperger sieht die deutschen Plattformanbieter dabei in einer starken Position: "SAP kennt sich zum Beispiel bei den Verwaltungsprozessen besonders gut aus, Siemens entwickelt seine Cloud-Lösungen aus einem tiefen Verständnis der Industriemaschinen heraus. Man braucht dieses Branchen-Know-how. Deshalb gibt es dafür noch keine Lösungen von Google."

Abkürzen lässt sich der Weg zur Digitalisierung kaum. Auch bei Mähdreschern hat es eine Dekade gedauert, um mit Sensordaten eine Softwareplattform aufzubauen. Mittlerweile lassen sich die Fahrwege im Einsatz auf dem Feld "live" über maschinelles Lernen verkürzen. "Maschinenhersteller, deren Produkte noch nicht digitalisiert sind, haben einen langen Weg vor sich", sagt Riemensperger. Besonders augenfällig werde das Problem, wenn man in einer Fabrik 20 Maschinen von verschiedenen Herstellern stehen habe. "Wenn sie dort die vorausschauende Wartung mit einem KI-System einführen wollen - das wäre die Killer-Anwendung."

Ausgerechnet die neue Datenschutzverordnung, die seit Mai in ganz Europa gilt, macht die Digitalisierung nicht einfacher. Riemensperger: "Der große Vorteil Deutschlands ist der Wert von Betriebsdaten der Maschinen. Aber wenn Sie diese Daten für einen Service nutzen wollen, und sie haben nicht explizit die Rechte daran, dann bewegen Sie sich in einer Grauzone." Bei Laufzeiten von zehn bis 30 Jahren stammt ein Großteil des heutigen Maschinenparks aus einer Zeit, als Digitalisierung noch ein Fremdwort war. Entsprechend unklar sind die Besitzverhältnisse an den Daten. Das ist einer der Gründe, warum Deutschland noch auf vielen ungenutzten Datenseen sitzt. Die Situation ist vergleichbar mit der eines Ölmultis, der Öl zwar fördern, raffinieren, aber nicht verkaufen darf. Europa müsse deshalb die Rahmenbedingungen für Marktplätze und Datenautobahnen schaffen, fordert der Berater von Accenture: "Da brauchen wir jetzt eine proaktive Wirtschaftspolitik."

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Quelle:
SZ vom 10.11.2018
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