Nadia Murad:Unbeugsam

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(Foto: Tobias Schwarz/AFP)

Die jesidische Friedensnobelpreisträgerin zieht die Welt in ihren Bann: Sie kämpft für die Rechte missbrauchter Frauen, angetrieben von ihrem eigenen Trauma.

Von Moritz Baumstieger

Hätte sich Nadia Murad eine Auszeit gegönnt, wäre das sicher auf Verständnis gestoßen. Am 10. Dezember 2018 wurde die gerade erst 25 Jahre alte Frau mit einem der angesehensten Preise geehrt, den die Jurys dieser Welt zu vergeben haben, dem Friedensnobelpreis. Sie musste bei der Zeremonie unzählige Hände schütteln, eine weltweit beachtete Rede halten, Interviews geben. Auch die Wochen zuvor waren fordernd: Murad hat Kanadas Premier Justin Trudeau getroffen, mit Frankreichs Präsident verhandelt, Angela Merkel in Berlin besucht, war Ehrengast auf Galas und Veranstaltungen. Wer würde sich nach all dem nicht an einen ruhigen Ort zurückziehen, zumindest bis Jahresende, um wieder Kraft zu tanken?

Nadia Murad scheint nach ihrem großen Tag in Oslo aber vor allem ans Weitermachen zu denken. Zumindest lässt der Rhythmus darauf schließen, in dem sie seither Termine absolviert: Nur zwei Tage, nachdem sie in Norwegens Hauptstadt geehrt worden war, traf sie 4000 Kilometer weiter südlich den neuen Präsidenten ihres Heimatlandes Irak. Den neuen Parlamentssprecher, den neuen Premier - jeder wollte ein Foto. Später reiste Murad zum Papst, weiter nach Paris, nach Katar.

Ein Grund für ihre Rastlosigkeit könnte sein, dass Nadia Murad ihr Engagement als UN-Sonderbotschafterin für die Überlebenden von Menschenhandel vor allem für andere betreibt - und höchstens insofern ein bisschen für sich selbst, als dass sie mit vielen Frauen, für die sie sich einsetzt, schreckliche Erinnerungen teilt. Der Nobelpreis ist für sie somit keine persönliche Auszeichnung, auf der sie sich ausruhen könnte, sondern ein Ansporn, weiterzumachen: "Ich hoffe, dass durch diesen Preis noch mehr Licht ins Dunkel kommt", sagte Murad in Oslo, "dass noch mehr Menschen aufmerksam werden auf die Gewalt, die den Jesiden angetan wird."

Eine Ikone der Menschenrechtsbewegung wollte Murad nie werden - ihr Plan war es vielmehr, einmal einen Schönheitssalon zu eröffnen in ihrer Heimat im Nordirak, nahe der syrischen Grenze. Dieser Traum starb am 3. August 2014, als die Terrormiliz Islamischer Staat das Dorf Kodscho stürmte. Die Islamisten, die zwei Monate zuvor die irakische Millionenstadt Mossul überrannt hatten und sich unbesiegbar wähnten, hatten sich in einem zynischen religiösen Gutachten die Legitimation erteilt, die Minderheit der Jesiden auszulöschen, die im Nordirak, in Syrien und der Türkei siedelt.

Verfolgt wurden die Jesiden in ihrer Geschichte schon mehrmals, was aber der IS nach jenem 3. August 2014 betrieb, war systematischer Völkermord: Seine Kämpfer erschossen in dem Gebiet um das Sindschar-Gebirge jeden männlichen Jesiden, dessen sie habhaft werden konnten, vorpubertäre Jungen steckte der IS in Umerziehungslager, um sie zu Kämpfern heranzuzüchten. Jesidische Frauen wie Nadia Murad wurden von den Dschihadisten verschleppt, versklavt und vergewaltigt.

Angetrieben von ihrem eigenen Trauma kämpft sie für die Sache der Jesidinnen

Sexuelle Gewalt wird in vielen Konflikten dieser Welt als Waffe eingesetzt; gemeinsam mit Nadia Murad wurde der Arzt Denis Mukwege mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, der sich um Frauen aus Kongos Kriegsgebieten kümmert. Die Mitglieder des IS wussten um einen Kodex der verschlossenen Religionsgemeinschaft der Jesiden: Wer sexuellen Kontakt mit Andersgläubigen hat - ob freiwillig oder nicht -, wurde bisher aus der Gemeinschaft verstoßen. Nach dem Genozid durch den IS sollte es die jesidische Gemeinschaft schaffen, ihre Haltung zu ändern.

Nadia Murad gelang nach drei Monaten mithilfe einer muslimischen Familie in Mossul die Flucht. 2015 kam sie mit einem Sonderkontingent, das Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann in einer spontanen Entscheidung aufgelegt hatte, nach Deutschland: 1000 jesidische Überlebende wollte er aufnehmen, wollte ihnen mit Therapieangeboten den Start in ein neues Leben erleichtern. Nadia Murad lebte zunächst in einer Sammelunterkunft, zum Psychologen ging sie nicht, sie wählte eine andere Form, mit ihrem Trauma umzugehen: Sie hielt es wach, riss es wieder und wieder auf, indem sie über das Erlebte sprach. "Natürlich fühle ich mich beschmutzt, vom ersten Tag an und bis heute", erklärte Murad nach der Preisverleihung in Oslo ihr Verhalten. Aber die Verbrechen würden weitergehen, "wenn wir als Frauen nicht dagegen anreden".

Wenn sie dagegen anredet, spricht Nadia Murad eher leise als laut, lieber in ihrem kurdischen Dialekt als auf Englisch. Dennoch hört man ihr gebannt und schockiert zu, in TV-Dokumentationen und in Parlamenten, in der UN-Vollversammlung und bei der Verleihung von Preisen, die sie mittlerweile für ihr Engagement in großer Zahl zugesprochen bekam.

Dass man ihr auch in Regierungssitzen zuhört, ist Nadia Murad besonders wichtig. Bei ihrem Besuch im Élysée-Palast in Paris erreichte sie, dass Frankreich dem Beispiel Baden-Württembergs folgt und ebenfalls ein Programm für überlebende Jesidinnen auflegt; die ersten Ankömmlinge begrüßte Murad wenige Tage vor Weihnachten gemeinsam mit Emmanuel Macron am Pariser Flughafen.

Abgeschlossen ist die Leidensgeschichte der Jesidinnen durch den ersten Friedensnobelpreis für eine Vertreterin ihres Volkes noch lange nicht. Noch immer befänden sich 3000 Frauen in der Hand des IS, sagt Nadia Murad. Und noch immer wurden die meisten Täter nicht zur Rechenschaft gezogen.

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