Als Werner Müller vom größten Karriereschritt seines Lebens erfuhr, war er zuhause in Mülheim an der Ruhr. Im Bademantel. Am Telefon war damals 1998 Bundeskanzler Gerhard Schröder. Der Energiemanager Müller solle in zwei Stunden in der damaligen Hauptstadt Bonn sein. Als Müller auf den dichten Autoverkehr verwies, wurde Schröder bestimmt: "Du bist um eins da. Und zieh Dir einen Anzug an!"
In Bonn rief Schröder den Ökonomen zum Wirtschaftsminister aus. Er wollte für die erste rot-grüne Bundesregierung Deutschlands einen Energieexperten. Der das Herzensziel der Grünen hinbekommen könnte, eine Abschaltung der Atomkraftwerke. Aber ohne Milliarden-Schadenersatz an die mächtigen Stromkonzerne. Müller bekam tatsächlich den ersten Atomausstieg der Bundesrepublik hin - den Angela Merkel als Kanzlerin erst revidierte, nur um nach dem Reaktorunglück in Fukushima 2011 eine erneute Kehrtwende hinzulegen.
Der Atomausstieg war Müllers Erfolg. Doch ob er selbst das Amt des Wirtschaftsministers als seinen größten Karriereschritt sah, ist eine ganz andere Frage. Müller war vor dem Ministeramt sehr gerne Manager. Und er wurde danach sehr gerne Vorstandschef der Ruhrkohle und des Mischkonzerns Evonik sowie Aufsichtsratschef der Bahn. Kritik an seinem Wechsel von der Politik zur Wirtschaft konnte er nicht verstehen: "Ich war 25 Jahre in der Energiebranche. Dahin bin ich nach vier Jahren Politik zurück. Wenn das nicht geht, gibt es keinen Austausch zwischen Politik und Wirtschaft mehr". So ein personeller Austausch ist in Deutschland in der Tat selten. Müller war ein Grenzgänger zwischen den Welten, der ernsthafter als andere Manager die Gesellschaft im Blick hatte. So, als er beim heutigen Eon-Konzern 1989 zur Freude der grünen Atomgegner die Aufbereitungsanlage Wackersdorf beerdigte. Und Mitte der Nullerjahre einen Plan zimmerte, die ewigen Umweltkosten der Steinkohle aus den Firmengewinnen von Evonik zu finanzieren - gut für den Steuerzahler.
Wie beim rot-grünen Atomausstieg gab es auch gegen diese unkonventionellen Großprojekte riesige Widerstände. Und die ließen sich nur überwinden, wenn einer wie Müller Politiker und Manager in großer Zahl auf seine Seite zu ziehen verstand. "Ich bin auch immer wieder überrascht, wie Müller es schafft, meine Parteifreunde zur Zustimmung zu bewegen", sagte mal ein hochrangiger CDU-Politiker über den SPD-nahen Manager. Grüne halten ihm zugute, dass er etwa öffentlich für den umstrittenen Umweltminister Jürgen Trittin eintrat, als der politisch unter Druck geriet.
Müller kam bei seinen Projekten zugute, dass er bei aller Macht unprätentios auftrat, liebenswürdig. Wer mit ihm als Konzernboss oder Minister zu tun hatte, bekam öfter eine Nachricht vom Sekretariat: Ein "Herr Müller" habe angerufen. Er griff selber zum Hörer, um einen zu erreichen. Und drängte nicht auf einen Rückruf oder verwies auf sein Amt.
Müller gewann die Menschen auch mit seinem Humor, mit dem er anders als mancher auch sich selbst nie schonte. 2018 hatte er wegen einer Krebserkrankung seine Ämter niedergelegt, als er den Verdienstorden Nordrhein-Westfalens bekam. Und sagte bei der feierlichen Verleihung, er hoffe zwar, den Orden noch lange tragen zu können: "Da ich aber heftig erkrankt bin, weiß ich, dass ich den Platz in absehbarer Zeit freimachen kann für andere Ordensträger".
Schon von der Krankheit gezeichnet, empfing er den Besucher in seinem Büro nahe der Essener Zeche Zollverein - und schob ihn gleich in ein Hinterzimmer, wo er rauchen konnte. Da saß er und erkundigte sich erst mal nach der Familie. Und tauschte dann Anekdoten über die mehr als 30 Jahre aus, in denen er Politik und Wirtschaft in Deutschland mit prägte. In der Nacht zum Dienstag starb Werner Müller mit 73 Jahren, sie nennen ihn jetzt den letzten Ruhrbaron.