Munich Economic Debates:Eine Chance für Europa

Die Expertin für internationale Beziehungen, Constanze Stelzenmüller, hält die Gefahr durch das Coronavirus noch nicht für gebannt - im Gegenteil. Aber trotz aller Risiken gebe es in einer Welt, die sich neu sortiert, auch Hoffnung für Europa.

Von Julia Bergmann

Der Eindruck, die Welt atme nach Wochen einschneidender Restriktionen langsam auf, trügt. "Das Schlimmste kommt noch", erwartet Constanze Stelzenmüller und meint damit die geopolitischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie in den kommenden Monaten und Jahren. Humanitäre Katastrophen, Kriege um Ressourcen, eine nie dagewesene Massenmigration - Szenarien, die noch vor zwei Monaten unwahrscheinlich gewirkt haben, würden plötzlich zu realistischen Bedrohungen, sagte die Expertin für europäische und transatlantische Außen- und Sicherheitspolitik in ihrem Online-Vortrag bei den "Munich Economic Debates", einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe des Ifo-Instituts und der Süddeutschen Zeitung.

Stelzenmüller ist Juristin und Publizistin. Sie arbeitet als Wissenschaftlerin für die Brookings Institution, eine einflussreiche Denkfabrik in der US-Hauptstadt Washington. Mehr als 4,6 Millionen registrierte Infizierte, 310 000 Tote weltweit, eine zweite Corona-Welle wird erwartet: "Das alles legt nahe, dass die Folgen dieser Pandemie unsere Gesundheitssysteme, unsere Gesellschaften, Volkswirtschaften und die internationale Ordnung sprengen werden", sagt Stelzenmüller.

Die Lage verschärfe bereits bestehende Verwerfungen. China betreibe seit Langem eine aggressive Dominanzstrategie mit dem Ziel einer Ablösung des amerikanischen Zeitalters. Auch Russland habe sich zuletzt als wichtiger Akteur im Mittleren Osten und Afrika etabliert und sich China als politischer Partner angedient. Während der Konflikt zwischen Washington und Peking eskaliere und der Wettstreit der Großmächte immer aggressiver werde, seien die USA beim Krisenmanagement auch auf internationaler Ebene abwesend, sagte Stelzenmüller. Die Pandemie könnte zum "Suez-Moment" für das amerikanische Zeitalter werden, sagt sie in Anspielung auf die Krise Mitte der Fünfziger-Jahre, mit der Experten das Ende Großbritanniens als Weltmacht verbinden. Die Pandemie habe eine Multikrise der Systeme verursacht, die in einer miteinander eng verflochtenen Welt auch in Europa und Deutschland nicht folgenlos bleibt.

Von der einstigen Schutzmacht USA könne sich Europa nun keine Unterstützung mehr erwarten. Selbst wenn man angesichts der Corona-Krise Nationalisierungstendenzen auch in Europa beobachten könne: "Es gibt kein Rückfahrtticket in eine Zeit vor der Globalisierung", sagt Stelzenmüller. Nationalistische Reflexe seien zwar geweckt, doch werde Europa nicht zwangsläufig zum Verlierer der Pandemie.

Deutschland habe sich während der vergangenen Jahrzehnte zur wichtigsten Gestaltungsmacht in Europa entwickelt. "Das macht uns aus der Sicht unserer Nachbarn zu so etwas wie Amerika in Europa. Wir werden dringend gebraucht", so Stelzenmüller. "Aber man hat auch echte Angst vor unserer Rücksichtslosigkeit." Immerhin habe sich in den zurückliegenden Wochen auf Regierungsebene ein neuer Ton etabliert. "Vom Hochmut, der während der Euro- und Flüchtlingskrise aus Berliner Institutionen und Behörden zu hören war, ist nicht mehr viel übrig, und das ist auch richtig", sagte die Deutsche, die in Amerika lebt. Man habe in Berlin verstanden, dass man durch die Krise nur gemeinsam komme. Das biete die Chance für mehr Zusammenarbeit. Eine Chance für Europa.

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