Süddeutsche Zeitung

Münchner Seminare:Jenseits von Bullerbü

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Zuwanderung und Digitalisierung setzen den Sozialstaat unter Druck. Politiker müssen handeln, findet Ökonom Mårten Blix.

Von Victor Gojdka, München

In jenen Tagen Ende Mai 2013, immer wenn es dunkel wurde über Stockholm, grassierte im Vorort Husby die Angst. Werden heute wieder Autos brennen, die Scheiben der örtlichen Geschäfte klirren, wird wieder der Geruch verkohlter Reifen durch die Straßen wabern? Kaum 30 Minuten entfernt vom schwedischen Regierungssitz, dessen malerische Silhouette sich im Norrström spiegelt, zeigte Schweden in jenen Maitagen vor vier Jahren eine bislang unbekannte Seite. Im Vorort Husby, wo riesige Bettenburgen aus Beton das Bild prägen, entlud sich Perspektivlosigkeit in Gewalt.

Es sind diese Bilder, die für viele Beobachter das Bild des Bullerbü-Wunderlandes platzen ließen: Ein Land mit hohen Löhnen, hoher sozialer Absicherung - so wohlfühlig, wie die Zimmer aus dem Ikea-Katalog. So dachte man sich das. Doch, erzählt der schwedische Ökonom Mårten Blix, mit den Maikrawallen 2013 habe es im sozialen Gefüge des skandinavischen Staates erstmals hörbar geknackt. "Der Sozialstaat steht unter dem Druck von Migration und Digitalisierung", sagte Blix jetzt bei den "Münchner Seminaren" von Süddeutscher Zeitung und Ifo-Institut. Die Warnung des Wohlfahrtsforschers lautet ganz klar: Wenn der Staat jetzt nicht handelt, könnte das soziale Gefüge aufbrechen.

Für Blix basiert diese Warnung auf einer Zahl: ein Sechstel. Statistiken zeigten, dass jede sechste Person, die heute in Schweden lebt, zwischen 1998 und 2015 in das Zehn-Millionen-Einwohner-Land gekommen ist. "Der Schlüssel zur Integration ist, dass diese Menschen Arbeit finden", sagte Blix. Doch der Bildungsstand der Migranten sei im Vergleich zu dem vieler Schweden niedrig, die zu mehr als 90 Prozent Abitur machen. Im Schnitt dauere es sieben Jahre, bis Migranten in Schweden zumindest in Teilzeit arbeiten. Und Teilzeit heißt in Schweden: mindestens eine Stunde pro Woche.

Das Problem betrifft nicht nur die Migranten selbst, sagte Blix, der am Stockholmer Forschungsinstitut für Industrieökonomik arbeitet. Er sieht darin vor allem ein Problem für den gesamten Sozialstaat: Immerhin 60 Prozent des Steueraufkommens in Schweden kommen aus Steuern auf Arbeit. Schaffen es die Zuwanderer nicht in reguläre Arbeit, entgehen dem Staat wichtige Steuereinnahmen. "Der Wohlfahrtsstaat bekommt damit ein Finanzierungsproblem", sagte Blix, "und die Menschen stellen die Zuwanderungspolitik infrage."

Während die Digitalisierung die Lage auf den ersten Blick verschärft, weil Roboter Jobs für Geringqualifizierte ersetzen, betonte Blix vor allem die Chancen. Gerade spezielle Internetplattformen für sogenannte Gig-Worker könnten Zugewanderte in Lohn und Brot bringen. Auf diesen Plattformen könnten Zuwanderer ihre Arbeit als Designer, Chemiker oder PR-Experten international feilbieten. Als Blix einmal eine komplizierte Excelberechnung brauchte, suchte er über diese Plattformen Hilfe. Und fand im Handumdrehen einen Programmierer aus der Ukraine, der innerhalb von nur wenigen Stunden das Problem löste. Auch für Geringqualifizierte gebe es auf diesen Plattformen immer wieder Arbeit, sie können zum Beispiel Supermarktregale fotografieren. "Die Zugewanderten können so direkt nach ihrer Ankunft einen Fuß in den Arbeitsmarkt kriegen", sagte Blix. Selbst, wenn sie noch kein Schwedisch sprechen.

Einen Haken habe seine Vision allerdings, bekannte der Ökonom selbst: Wie die Arbeit auf solchen globalen Plattformen besteuert wird, ist unklar. Wenn der Schwede Blix einen ukrainischen Programmierer beauftragt, müssen die Steuern dann in Schweden, in der Ukraine oder am Sitz der Vermittlungsplattform abgeführt werden?

Wie Politiker auf dieses Problemdreieck aus Wohlfahrtsstaat, Digitalisierung und Zuwanderung reagieren sollten, ließ Blix offen. Gesetzlich angeordnete, niedrigere Löhne für Zuwanderer? Insgesamt niedrigere Tarifabschlüsse? Die neuen Mitbürger umqualifizieren? Mit klaren Empfehlungen hielt sich der Ökonom an diesem Abend zurück. Im kommenden Jahr stehen in Schweden schließlich Parlamentswahlen an. Um die richtigen Ideen müssen sich dann die Politiker streiten.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2017
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