Moleskine:Kladde für Kreative

Die gebundenen Notizbücher des Herstellers Moleskine werden in China billig produziert und weltweit teuer verkauft - die Geschichte eines Marketing-Märchens.

Hilmar Poganatz

Man trägt wieder Papier. Die Konterrevolution hat die Welt der Blackberrys und iPhones erfasst. Es geschieht in Münchner Cafés, an den Kunsthochschulen von Berlin und in der Hamburger Hochbahn. Junge, gut gekleidete Menschen kritzeln in kleine, schwarze Blocks. Ihre Mini-Laptops und Smart-Phones bleiben in der Tasche, und mit jedem Bleistiftstrich erobern sie ein Stück digitalisierte Welt zurück.

Moleskine: Das kleine Schwarze: Moleskine.

Das kleine Schwarze: Moleskine.

(Foto: Foto: Stockexchange-Ellikelli)

Weltweit mehr als zehn Millionen Notizbücher verkauft

Allein in Deutschland hat der Mailänder Schreibwarenhersteller Moleskine im vergangenen Jahr 1,6 Millionen der Notizbücher verkauft, weltweit mehr als zehn Millionen. Die Ausstellung "Detour" soll der analogen Revolution jetzt noch mehr Schwung verleihen. Vom 30. Oktober bis 16. November stellen im Berliner "Museum der Dinge" Künstler wie Javier Marías ("Dein Gesicht morgen") und Spike Jonze ("Being John Malkovich") ihre Notizbücher aus.

Moleskine verkauft sich als "das legendäre Notizbuch der Künstler und Intellektuellen der vergangenen zwei Jahrhunderte", und schmückt sich mit Namen wie Hemingway, Van Gogh und Picasso. Das kleine Schwarze mit den elegant gerundeten Ecken und dem Gummiband gilt als Klassiker des schlichten Designs, als Reisepass der kreativen Kaste. Wer in ein Moleskine schreibt, erhebt einen Anspruch: "Ich schaffe etwas von Wert, etwas Bleibendes." Eine Skizze, die in einen Rahmen gehört, einen Satz fürs Bücherregal. Er gibt sich als Ästhet zu verstehen.

Moleskine ist Pose. Dass sie den gebundenen Zettelstapel nicht mit dem Rechner verbinden können, stört die Posierer nicht. Dass das Notizbuch mindestens 13 Euro kostet, auch nicht. Und dass die Werbung ein Hirngespinst ist, erst recht nicht. Sie kaufen ein Gefühl - die Geschichte von Moleskine ist ein modernes Marketing-Märchen.

Nichts davon ist vorhersehbar, als das Büchlein vor zehn Jahren erstmals in den Regalen liegt. Der italienische Hersteller Modo&Modo schaltet keine Anzeigen. Er bietet keinerlei Produktvielfalt, geht beim Preis keine Kompromisse ein und beliefert keine Schreibwarengeschäfte. Es ist die Zeit, in der überall in der Welt große Buchhandlungen beginnen, Lesecafés einzurichten. "Dort wollten wir hin", erinnert sich Marketing-Chef Fabio Rosciglione: "Dahin, wo die Menschen ihr wertvollstes Gut opfern: Zeit."

Der Plan geht auf. Zwischen Bücherregal und Kaffeetasse beißen die Kunden an. Das Marketing-Märchen fasziniert sie - obwohl es frei erfunden ist. Entlang historischer und literarischer Linien, aber dennoch frei erfunden. So wie die Geschichten von Bruce Chatwin.

Unerhebliche Wahrheit

Der englische Reiseschriftsteller ist Moleskines Gallionsfigur. In seinem Bestseller "Traumpfade" (1987) schreibt er: "In Frankreich kennt man diese Notizbücher als ,Moleskine Hefte'." Die Bindung sei aus Maulwurfsfell gewesen, einem samtschwarzen Öltuch, das auf Deutsch "Englischleder" heißt. "Die Seiten waren kariert, und ein Gummiband hielt die Deckel zusammen." Angeblich waren ihm die Kladden wichtiger als sein Pass. Doch als der letzte Familienbetrieb 1986 die Produktion einstellt, habe ihm die Verkäuferin in seiner Lieblings-Papeterie in der Rue de l'Ancienne Comédie gesagt: "e vrai moleskine n'est plus - das wahre Moleskine gibt es nicht mehr."

Lesen Sie weiter: Warum es bei Moleskine auch ohne Werbung geht.

Kladde für Kreative

An dieser Stelle nehmen die Italiener den Faden auf. Das alte Heft wird zur Vorlage für ein neues Produkt. Weil der Ausdruck "Moleskine" nur bei Chatwin vorkommt, kann Modo & Modo sich den Namen 1996 schützen lassen. Zwei Jahre später erscheint das Büchlein unter der neuen Marke. Heute erzielen die Italiener in 53 Ländern einen Jahresumsatz von 29 Millionen Euro, Tendenz stark steigend.

Klassische Werbung haben die Mailänder noch immer nicht nötig. Blogger kauen die Geschichte im Internet wieder und wieder. Auch in Filmen taucht die Ikone der Intelligenzija nun häufig auf: Daniel Day-Lewis schreibt in "There will be blood" in sein Moleskine, ebenso wie Audrey Tautou in "Die fabelhafte Welt der Amélie". Dank einer kleinen Anekdote ist das Mailänder Unternehmen heute geschätzte 100 Millionen Euro wert.

Besuch in Paris

Die Suche nach dem Körnchen Wahrheit führt nach Paris. In der Rue de l'Ancienne Comédie gibt es ein sehr altes Café, ein winziges Antiquariat, ein Modehaus und cremefarbene Häuser mit französischen Balkonen. Schreibwarengeschäfte gibt es keine. "Nein, eine Papeterie hat es hier nicht gegeben, auch in den achtziger Jahren nicht." Danielle Tetard ist sich ziemlich sicher. Die grauhaarige Buchhändlerin steht im hölzernen Türrahmen der "Libraire du Camée" und schüttelt den Kopf.

Bruce Chatwin machte nie einen Hehl daraus, frei zu fabulieren. Und so lenkt auch die Moleskine-Entwicklerin Maria Sebregondi ein: "Wir haben das Objekt selbst geschaffen, aus den besten Merkmalen berühmter Notizbücher." Das Namen gebende Englischleder gehört offenbar nicht dazu. Sonst aber habe sie Picassos und Van Goghs Originale genau gemustert, beteuert die Designerin. Wie viel davon stimmt? Francesco Franceschi, der frühere Chef der Firma, hat die Antwort auf diese Frage längst gegeben: "Das ist Marketing, keine Wissenschaft. Es ist nicht die absolute Wahrheit."

Menschen mögen Märchen. "Geschichten müssen nicht immer wahr sein, wir können sie aber trotzdem schön und interessant finden", sagt der Marken-Experte Christopher Wünsche. Wünsche ist Managing Director der Münchner Filiale von Interbrand Zintzmeyer & Lux und weiß, wie wichtig eine gute Story ist: Sie macht eine Marke "merkfähig". Auch die Moleskine-Story enthalte klassische Elemente von Legenden und Romanen, sagt Wünsche: Charaktere mit klingenden Namen. Paris als romantischer Handlungsort. Und dann die Handlung selbst: "Ein Schatz geht unter und wird wiederentdeckt."

Wie wenig Wahrheit dahinter steckt, scheint unerheblich. Moleskine ist seit Jahren in der Hand der Investmentgesellschaft SG Capital. Trotzdem gibt es weltweit neun Blogs zum Thema Moleskine. Echte Fan-Seiten - für einen Schreibblock! Selbst die größten Enttäuschungen können die Enthusiasten nicht trennen von ihrem Lieblingsprodukt: "Printed and bound in China. Assembled in Italy." Als dies vor zwei Jahren auf dem Moleskine-Bucheinschlag steht, geht ein Aufschrei durch die Blogs. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass die Kladden schon immer in China gefertigt worden waren. Sonst würden sie 30 Euro kosten. Der Sturm legt sich.

Am Ende setzt der gleiche Mechanismus ein, der auch die Geschichte rechtfertigt: In der Web 2.0-Generation ist der Kunde aufgeklärt genug, die Tricks der Werber zu durchschauen - und kauft trotzdem das, was ihm gefällt.

"Obwohl ich ihr Marketing durchschaue, fällt es mir schwer, mich von den starken Gefühlen zu lösen, die es heraufbeschwört", gibt ein Blogger zu. "Ich habe gelesen, dass die Moleskine-Legende Fiktion ist", schreibt ein weiterer Fan: "Umso besser!"

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