Deutschland soll auf die Couch. An diesem Mittwoch wollen die 27 EU-Kommissare in Brüssel darüber abstimmen, ob ihre Behörde die gewaltige Exportstärke deutscher Unternehmen untersuchen soll. Es wäre, um im Bild zu bleiben, wie der Versuch einer europaweiten ökonomischen Tiefenanalyse: Warum kaufen so viele Europäer so gerne die Autos und andere Dinge aus deutscher Produktion, einerseits? Und warum konsumieren - andererseits - die Deutschen nicht mehr? Warum sparen sie lieber, anstatt die aus dem Exportboom erzielten Erlöse wieder zu investieren?
Dass diese Seelenerkundung beschlossen wird, gilt als sicher. In den vergangenen fünf Jahren haben die Kommissare unter Behördenchef José Manuel Barroso stets widerspruchslos getan, was der Chef wollte. Und Barroso will Deutschland auf der Couch sehen.
Wohl weniger aus der Überzeugung, dass die deutsche Exportstärke die Ursache der Schuldenkrise in der Euro-Zone ist. Vielmehr ist die Kritik an der deutschen, einseitig auf Export ausgerichteten Wirtschaftspolitik in den vergangenen Wochen gerade wieder so laut geworden, dass sie kaum mehr zu ignorieren ist, ohne den Frieden innerhalb der Währungsgemeinschaft zu riskieren. So hat sich zuletzt die belgische Regierung ganz offiziell bei der EU-Kommission über deutsches Lohndumping beschwert.
Kein Lob mehr aus Brüssel
Zudem bricht Deutschland aufgrund seines Handelsüberschusses seit 2007 permanent die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, ohne dafür jemals zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Wenn aber andere Euro-Länder ständig für Verstöße gegen den Pakt geschurigelt werden, ist es nur billig, sich auch die Deutschen einmal vorzunehmen.
Es ist vorbei mit dem ständigen Lob aus Brüssel, Deutschland sei der Wachstumsmotor für Europa. Längst steht das Land mit seinem Wirtschaftsmodell am Pranger, und das nicht nur in Europa. Die jüngste Kritik des amerikanischen Finanzministeriums fiel eindeutig aus. "Deutschlands anämisches Wachstum der Binnennachfrage und seine Exportabhängigkeit haben ein Ausbalancieren in einer Zeit behindert, in der viele andere Länder der Euro-Zone stark unter Druck standen, die Nachfrage zu bremsen und Importe zurückzufahren", schreiben die US-Experten in ihrem aktuellen Bericht.
Übersetzt heißt das: Die Amerikaner finden, dass Europas größte Volkswirtschaft sich auf Kosten anderer saniert und zu wenig tut, um die Binnennachfrage über Privatkonsum und Investitionen anzukurbeln.
Derlei Kritik dürfte den Graben zwischen südlichen und nördlichen Euro-Ländern noch breiter werden lassen, als er ohnehin schon ist. Denn im Süden des Kontinents ist man schon lange der Meinung, dass nicht allein die eigenen Schulden und die eigenen strukturellen Probleme die Krise in der Euro-Zone ausgelöst haben.
Auch der deutsche Exportboom zwischen 2001 und 2008 habe dazu beigetragen, der einherging mit dem Transfer großer Sparüberschüsse nach Südeuropa. Frankreich steht seit Langem an der Spitze derjenigen, die Deutschland auffordern, seiner Verantwortung für ganz Europa gerecht zu werden.
Der frühere Staatspräsident Nicolas Sarkozy schickte im März 2010 seine damalige Finanzministerin Christine Lagarde vor, um auf das Problem zu verweisen - und höhere Löhne für deutsche Arbeiter zu fordern. Zum Tango gehören zwei, sagte Lagarde damals: Ohne die Defizite von Ländern, die auf Pump konsumiert haben, hätte es die Überschüsse von Exportnationen nicht gegeben.
Präsident François Hollande hat diese Position übernommen. Im Oktober schickte er seinen streitbaren Industrieminister Arnaud Montebourg mit der Botschaft an die Öffentlichkeit, erst wenn die Bundesregierung einen flächendeckenden Mindestlohn beschließe, lohne es sich für ihre Sendboten wieder, in Paris vorstellig zu werden - etwa um über die Aufweichung von Klimagrenzwerten für Autos zu verhandeln.
Derweil schreien belgische und bretonische Arbeiter ihren Ärger über deutsche Dumpinglöhne öffentlich heraus, mit denen deutsche Schlachtereien die Konkurrenz ausstechen. Und südfranzösische Obst- und Gemüsebauern schreiben ihrer Regierung, sie solle sich in Berlin für Mindestlöhne einsetzen, andernfalls würden die deutschen Dumpingpreise die südfranzösische Konkurrenz sterben lassen.
Kritiker fordern "interne Reformen" in Deutschland
Auch die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone meldet sich inzwischen zu Wort. "Wenn es Wachstum und Stabilität nur in Deutschland gibt und der Rest von Europa außen vor bleibt, wird das am Ende auch schlecht für Europa sein", sagte Premier Enrico Letta am Montag. Italien steht ähnlich wie Frankreich wirtschaftlich deutlich schlechter da. Die Zahl der Arbeitslosen steigt, die Unternehmen sind schwach, Wachstum gibt es gar nicht oder nur in homöopathischen Dosen.
Guntram Wolff, Chef von Bruegel, der größten unabhängigen europäischen Denkfabrik in Brüssel, geht davon aus, dass eine stärkere Binnennachfrage in Deutschland zuallererst Italien und Frankreich helfen würde, "einfach, weil die Deutschen dann mehr Produkte aus diesen Länder konsumieren". Wolff plädiert für "interne Reformen", Deutschland müsse die Bedingungen für öffentliche und private Investoren verbessern.
Genau das fordert längst auch die Europäische Kommission in ihren länderspezifischen Empfehlungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sie zuletzt im Juni 2013 unterschrieben - ohne seitdem auf deren Umsetzung daheim zu drängen. Durchaus vehement drängte Merkel dagegen nach dem Ausbruch der Krise darauf, das wirtschaftspolitische Instrumentarium der Euro-Zone zu erweitern und "Indikatoren" festzulegen, die frühzeitig vor krisenhaften Entwicklungen warnen sollten.
Einer der Indikatoren ist die Leistungsbilanz, die maximal sechs Prozent über dem Bruttosozialprodukt (BIP) liegen darf. Länder, die diese Schwelle wiederholt verletzen, müssen mit einer Verhaltensanalyse rechnen. Genau deshalb muss Deutschland jetzt auf die Couch. Verweigert sich der Patient der Therapie, drohen Strafzahlungen - bis zu 0,1 Prozent des BIP.