Parfüm N°5. Elegante Handtaschen. Das "kleine Schwarze", das Firmengründerin Coco Chanel einst erfand. Das sind die Dinge, die in aller Welt den Modemythos Chanel ausmachen. Für Connaisseure der Branche aber rankte sich bisher ein weiterer Mythos um das Pariser Modehaus: Niemand außerhalb des kleinen Führungszirkels im Unternehmen kannte die Chanel-Bilanz. Sie galt als eines der größten Geheimnisse der Modewelt.
Jetzt plötzlich, einfach so, hat Chanel das Geheimnis gelüftet. Erstmals in 108 Jahren Geschichte veröffentlicht die Firma Ergebniszahlen. Und die erregen in der Branche mindestens so viel Aufsehen wie eine Kollektion der Chanel-Ikone Karl Lagerfeld: 8,3 Milliarden Euro Umsatz erzielte das Unternehmen 2017, elf Prozent mehr als im Vorjahr. Der Gewinn stieg gar um 23 Prozent auf 2,3 Milliarden Euro.
Die Enthüllung markiert einen Einschnitt, "einen historischen Moment für Chanel", wie Finanzchef Philippe Blondiaux sagt. Und: Er veröffentlicht die Zahlen natürlich doch nicht einfach so. Blondiaux und die Familie Wertheimer, die den Haute-Couture-Tempel seit den Zwanzigern beherrscht, wollen mit dem Ausweis ihrer Finanzkraft Gerüchten um eine Übernahme die Grundlage entziehen.
In der Riege bedeutender Modehäuser zählt Chanel zu den wenigen, die noch unabhängig sind. Die Rivalen Louis Vuitton und Gucci gehören, wie viele andere, den Luxusmultis LVMH und Kering. Nur das Familienunternehmen Hermès ist mit Chanel vergleichbar, pflegt jedoch einen konservativeren Stil. Chanel hat zudem die Eigenheit, sich dem Onlinehandel mit Mode und Lederwaren strikt zu verweigern, "um Exklusivität und Attraktivität zu erhalten", wie es heißt. Mit der Veröffentlichung der Bilanz gleicht sich Chanel nun zumindest in der Finanzkommunikation an. Der verkaufsfördernde Mythos aber soll unbedingt intakt bleiben.
An dessen Anfang steht Gabrielle, genannt Coco, Chanel. Sie begründet zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer revolutionären Verbindung von Schlichtheit und Eleganz einen neuen weiblichen Chic, der wohlhabende Pariserinnen aus den Zwängen des Korsetts befreit. Große Filmstars nähren den Mythos: Marlene Dietrich trug Hosenanzüge, die Chanel für entwarf; Marilyn Monroe verkündete, sie schlafe nachts mit nichts bekleidet außer einigen Tropfen N°5. Auch Coco Chanel selbst führte ein filmreifes Leben. Vom Waisenhaus, in dem sie nähen lernte, bis zum Ruhm, der ihr ein Dauerquartier im Luxushotel Ritz ermöglichte. Dass sie während der deutschen Besatzung wenig Skrupel gegenüber den Nazis zeigte, wurde ihr kaum verübelt. Bis heute zählt vor allem ihre stilbildende Ästhetik, die sich gegen die Wechsel der Mode behauptet - und die von Lagerfeld seit 35 Jahren in pompösen Schauen gepflegt wird.
Die Abhängigkeit zu lösen von dem 84-jährigen Modeschöpfer, der sich selbst längst zur Legende erhoben hat, ist eine der Herausforderungen des Unternehmens Chanel. Finanzchef Blondiaux spielt Lagerfelds Bedeutung schon etwas herunter, indem er sagt, die Kollektionen des eigenwilligen Meisters brächten "solide Ergebnisse". Blondiaux verweist außerdem auf glänzende Geschäfte in Asien, eine satte Gewinnmarge von 27 Prozent und einen Schuldenstand nahe null.
Chanel verdoppelt die Investitionen in Boutiquen überall auf der Welt
"Wir haben gemerkt, dass uns die Kultur der Diskretion nicht mehr nutzt", erklärt der Manager die neue Transparenz. Sie sei aber keinesfalls als Zeichen zu werten, dass Chanel an die Börse strebe. Dort wäre die Veröffentlichung Pflicht. "Ganz im Gegenteil", sagt Blondiaux. "Die Zahlen zeigen, dass wir über alle Mittel verfügen, zu bleiben, was wir sind. Nämlich ein unglaublich stabiles Unternehmen, das auch die nächsten hundert Jahre unabhängig bleiben kann." Nebenbei möchte Chanel den Rivalen in der Branche den eigenen Rang beweisen: Jetzt wissen endlich alle, dass das Traditionshaus aus der Pariser Rue Cambon Marktführer Louis Vuitton ebenbürtig ist. Und klar größer als Gucci. Um diesen Rang zu halten, verdoppelt Chanel nun die Investitionen in Boutiquen überall auf der Welt.
Noch ein Anliegen verfolgt Blondiaux. Er will "falsche Angaben" darüber gerade rücken, wie viel die Eignerfamilie aus der Firma entnimmt. Vor zwei Jahren kursierten Berichte, die Gebrüder Alain und Gérard Wertheimer hätten sich 3,4 Milliarden Dollar gegönnt. Tatsächlich waren es 2016 591 Millionen Dollar; 2017 dann 109 Millionen Dollar. Die einschlägigen Milliardärs-Rankings müssen nach der spektakulären Veröffentlichung von dieser Woche dennoch korrigiert werden - nach oben: Der Bloomberg Billionaires Index etwa taxiert das Vermögen jedes der Brüder von sofort an auf 23 Milliarden Dollar, das sind 8,7 Milliarden Dollar mehr als bisher.
Eines verändert sich allerdings nicht: Die Wertheimers bleiben verschwiegen. Oder, wie Gérard Wertheimer einmal sagte: "Wir reden nie." Auch die neue Offenheit kennt Grenzen.