Elias Tsolakidis funkelt den Reporter über sein Glas mit dampfendem Tee hinweg an. Dann holt er noch einmal tief Luft. "Es war zutiefst verletzend, als in Deutschland die Griechen als faule Menschen dargestellt wurden. Wissen Sie noch? Die Zeitungen schrieben, die Griechen würden am Strand liegen und auf Kosten des deutschen Steuerzahlers Ouzo trinken." Seine Hand schlägt dabei mit der Kante auf den Tisch. Verstohlen blicken in dem Lokal in Katerini am Fuße des Olymp einige Gäste herüber. Sie wollen wissen, warum der Mann am Nebentisch so laut spricht. Noch dazu auf Deutsch. Dabei sieht er auffallend freundlich aus: Ziemlich viel Bart im Gesicht und dermaßen viele Haare auf dem Kopf, dass man sich fragen könnte, ob er daheim Kräuter von den Flanken des Olymp zu einer geheimnisvollen Haartinktur zusammenrührt. Nun wippen sie im Takt des Zorns.
In Köln ist der 60-Jährige Technischer Direktor am European College of Sport Science, einer Ausgründung der Sporthochschule. Gleichzeitig leitet er eine kleine Firma für Sportmanagement-Software. Deswegen sitze man aber nicht hier in Katerini, einer Stadt im Nordosten Griechenlands mit etwa 80 000 Einwohnern. Es geht um seinen dritten und, wie er es selbst formuliert, anstrengendsten Job: Tsolakidis versorgt zusammen mit weiteren Helfern Hunderte Familien in Katerini mit Nahrungsmitteln und Medikamenten.
Er ist so eines der Gesichter der Krise in Griechenland geworden - und jemand, der viele Nachahmer gefunden hat. Weil er zeigt, dass es besser ist, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, als auf einen Staat zu warten. Selbst in Brüssel erzählt er mittlerweile den Parlamentariern von seiner Arbeit und wie es um Griechenland steht. Tsolakidis macht es natürlich nicht allein. Er und sein Team sind Teil der Bürgerinitiative O topos mou, was übersetzt so viel wie "Mein Ort" heißt. Sie organisiert den Verkauf von Grundnahrungsmitteln: Bauern aus der Umgebung bieten Kartoffeln, Zwiebeln oder Olivenöl zu einem Bruchteil des Preises in den Supermärkten an. Daneben sammelt O topos mou mit seinen zwölf Untergruppen Medikamente und ärztliches Material aus ganz Europa, die an die Bürger des Ortes abgegeben werden - aber auch an das lokale Krankenhaus und das Gefängnis. Und an Flüchtlinge.
Was macht seinen Job so anstrengend, wo doch soziales Engagement von vielen eher als Vergnügen oder Maßnahme zur Selbstfindung belächelt wird? "Kommen Sie morgen Vormittag auf unser Gelände Kapnikos", sagt Tsolakidis, "dann zeige ich Ihnen alles." Am nächsten Tag um kurz vor elf steht Tsolakidis neben 100 Kartoffelsäcken auf dem Terrain einer ehemaligen Tabakforschungsstation, das nun von O topos mou genutzt wird. Zu sehen sind einige ältere, hübsch renovierte, zweigeschossige Bauten und einige Holzbuden, die nach Weihnachtsmarkt aussehen. "Die Säcke werden gleich von Mitgliedern der evangelischen Kirche abgeholt, die sie dringend brauchen", sagt Tsolakidis.
Kurz darauf fahren ein Auto und ein Lieferwagen vor - sieben Männer steigen aus den Fahrzeugen. Tsolakidis, groß gewachsen und kräftig, steht mit seiner dunklen Sonnenbrille da, als müsse er die Kartoffeln persönlich verteidigen. Die Herren begrüßen sich, dann machen sich die sieben Männer an die Arbeit, und binnen Minuten liegen die Kartoffeln im Transporter. Tsolakidis lässt sich alles quittieren und macht ein Foto. Das Foto mache er immer, wird er später erzählen. Zur Dokumentation, damit alles transparent sei. Nach zehn Minuten ist die Aktion vorbei, und die sieben Männer sind mit 1000 Kilogramm Kartoffeln verschwunden.
Ist die wirtschaftliche Lage noch immer so schlecht, dass so viele Lebensmittel verteilt werden müssen? Tsolakidis fragt zurück: "Was denken Sie?" Nun, es gibt die offiziellen Zahlen, die sagen, dass die Wirtschaft wieder deutlich wächst. Im Stadtzentrum herrscht reger Trubel, und in den Geschäften erzählen die Leute, dass sich die Lage zumindest stabilisiert habe. Tsolakidis wiegt den Kopf hin und her, als sei er sich selbst nicht sicher. Er sehe kaum Verbesserungen, sagt er dann. Zwar sei die medizinische Versorgung mittlerweile kostenlos, doch an der finanziellen Situation für die Bürger hat sich kaum etwas geändert. "Wir sprechen von der 480-Euro-Generation. 480 Euro bleiben im Schnitt als Einkommen einer Vollzeitstelle - und das mit Preisen für Nahrungsmittel und Kraftstoff, die deutlich über denen in Deutschland liegen."
O topos mou im Schulunterricht
Eine Frau betritt das Gelände von Kapnikos. Tsolakidis hat einen Termin mit ihr - sie besprechen eine Kooperation mit einem Gymnasium in Luxemburg. Es wird einen Schüleraustausch geben, eine Schule in Katerini soll unterstützt werden. Vor allem aber wollen die Luxemburger von den Leuten aus Katerini lernen. Wie organisieren sich Menschen in Not? Im kommenden Schuljahr werden in drei Klassen Projekte von O topos mou im Unterricht vorgestellt.
Während des Aufenthalts auf dem Gelände hat Tsolakidis nur selten Zeit, einen Satz zu Ende zu sprechen. Ständig kommen Menschen und wollen etwas von ihm. Laufend klingelt sein Telefon. Er redet dann auf Deutsch, auf Englisch, auf Griechisch. Sitzt er gerade am Tisch, schlägt er auch bei diesen Gesprächen gerne mal mit der Handkante auf den Tisch. Tsolakidis behauptet, dass O topos mou keinen Chef habe, aber kein Zweifel: Er ist es. Er bittet hier nicht um Aufmerksamkeit - er findet sie ohne Unterlass.
Frage an Tsolakidis: Ist die Arbeit hier für ihn vielleicht deswegen so anstrengend, weil er keine Aufgaben abgeben kann? Er ist es doch gewohnt, ein Unternehmen zu führen. Er hat einen Kompagnon, mit dem er eng zusammenarbeitet. Er hat 120 Organisatoren, die Verantwortung übernehmen. Er hat 3000 Leute, die hin und wieder mitmachen. Und einen Mailverteiler mit 38 000 Personen. Findet er da keine Unterstützung? Tsolakidis antwortet mit einer Begebenheit vom Morgen. Da habe er mit einem Mitarbeiter in Köln telefoniert. "Es waren Fehler passiert, die nicht hätten passieren dürfen. Ich habe ihm gesagt, dass wir dieses und jenes dringend ändern müssen." Der Mitarbeiter ändere es, weil er wisse, dass er ansonsten nicht bleiben könne. Bei O topos mou sei es anders. "Hier passt sich keiner an. Wenn ich nicht gut genug bin, sagen die Leute zu mir: "Elias, hör mal, mit dir mache ich das nicht. Tschüss."
Geben und Nehmen
Trotzdem spreche er an, wenn etwas nicht gut laufe. Wer im sozialen Supermarkt umsonst Lebensmittel erhält, soll im Gegenzug bei O topos mou für eine gewisse Zeit mitarbeiten. "Wenn jemand dann eine Pause macht, obwohl er zehn Minuten vorher schon mal eine Pause gemacht hat, gehe ich hin und sage ihm, dass das nicht in Ordnung ist." Tsolakidis ist das Gegenteil von einem Sozialromantiker. Für ihn bedeutet Hilfe nicht Almosen. O topos mou sei keine Lebensmitteltafel. "Ich möchte jeden, der zu uns kommt, unterstützen, damit er wieder auf die Beine kommt, sodass wir beide wieder auf dem gleichen Level sind."
Aber es müsse alles ein Geben und Nehmen sein. Wer nicht geben will, darf nicht bleiben. Weil das oft nicht so funktioniere, wie er sich das vorstellt, sei er über die Jahre zum Kontrollfreak geworden, sagt er. Bei O topos mou verfolge jeder andere Ziele. Der eine wolle Kartoffeln umsonst, der Nächste genieße es, hier unter Menschen zu sein. Diese unterschiedlichen Ziele unter einen Hut zu bekommen, das sei so anstrengend. "Diese Gruppe ist ein ewiger Kampf."
Warum führt er diesen Kampf? Warum war er es, der im Jahr 2007 der Feuerwehr in Katerini angesichts der damals herrschenden Waldbrände auf dem Peloponnes anbot, zusammen mit Freunden vom Strand aus jeden Tag im Sommer die Wälder auf dem Olymp zu beobachten, etwaige Feuer zu melden - und so O topos mou gründete? Einer, der Tsolakidis seit dieser Zeit kennt und heute eine Baustofffirma am Stadtrand hat, sagt: "Elias war schon immer so. Der wird einfach nicht müde." O topos mou funktioniere, weil Tsolakidis "ein Logistikhirn habe und einen starken Willen, etwas zu verändern". Und alles das paart sich mit einem untrüglichen Gespür für den guten Auftritt.
"Darum ist undenkbar, dass ich nicht aktiv werde, wenn etwa Flüchtlinge zu uns kommen"
Tsolakidis selbst sucht länger nach Worten, wenn man ihn nach dem Warum fragt. Zunächst sagt er dann, dass es ihn beeindrucke, wie Menschen in Deutschland Verantwortung übernehmen - "manche adoptieren sogar einen Baum". Aber dann geht es um seine Eltern, die "geschuftet haben wie die Tiere". Und seine Großeltern, die einst in griechischen Siedlungen am Schwarzen Meer lebten. Sie mussten nach dem Ersten Weltkrieg auf Schiffen das Land verlassen. Kinder, die erkrankten, wurden ins Meer geworfen, damit sie auf den übervollen Schiffen nicht andere ansteckten. Auch seine Mutter wurde krank, überlebte nur, weil sie von der Großmutter in einer Tasche versteckt wurde. "Darum ist undenkbar, dass ich nicht aktiv werde, wenn etwa Flüchtlinge zu uns kommen."
Oft sagt er Sätze wie: "Das ist ein Skandal", oder: "Die Gesellschaft reagiert nicht darauf - man spricht darüber, aber macht nichts. Das verstehe ich nicht." Wäre es da nicht besser, selbst in die Politik zu gehen? Vor ein paar Jahren, als die SZ schon einmal bei ihm war, hatte er das kategorisch ausgeschlossen. Mittlerweile jedoch drängten ihn viele, Bürgermeister zu werden. "Aber", fragt er dann, "wie soll ich mit dem Gehalt eines griechischen Politikers das Studium von drei Kindern finanzieren?"
In den Zeiten, als manche Zeitungen nur noch von "Pleite-Griechen" schrieben, die den Euro wieder abgeben müssten, war es für Tsolakidis unangenehm, in seiner zweiten Heimat Köln in die Mensa der Sporthochschule zu gehen. Ständig sei er mit dem Thema Griechenland konfrontiert worden, erzählt er. "Ich habe dann Kollegen gefragt, ob sie wirklich denken, dass die Griechen faul sind. Und dann ganz direkt: Ob ich faul bin." Verlegen hätten sie dann zur Seite geblickt, weil "der Grieche" ja vor ihnen stand, bei ihnen arbeitete und gar nicht am Strand lag. "Aber der Ouzo", sagt Tsolakidis und lächelt kurz den Reporter an, "ist natürlich ein feines Getränk."