Mittwochsporträt:Sanfte Revolution

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Fasziniert von Menschen und ihrer Motivation: Seit einem halben Jahr ist die Britin Jill Ader Chefin von Egon Zehnder. (Foto: Egon Zehnder)

Jill Ader ist die erste Frau an der Spitze der Personalberatung Egon Zehnder. Für ihre Beförderung musste sogar eine interne Traditionsregel gebrochen werden. Und auch sonst macht die Britin einiges anders.

Von Isabel Pfaff

Jill Ader reißt erst einmal die Fenster auf. Klares Wetter, frische Luft, irgendwo läuten Kirchturmglocken: "Das liebe ich an der Schweiz." Seit einem halben Jahr lebt die Britin in Zürich, wo die Personalberatung Egon Zehnder ihren Hauptsitz hat. Eine unauffällige Villa am Fuß des Zürichbergs, diskrete Messingtafeln mit dem Firmenschriftzug neben der Eingangstür, frische Blumen am Empfang: Jill Aders neuer Arbeitsplatz wirkt ein bisschen wie die Chefin selbst - vornehm, zurückhaltend, freundlich. Im Gespräch vergisst die 59-Jährige nie ihr Gegenüber, fragt "Macht das Sinn?" oder "Sehen Sie das ähnlich?" Am Ende entschuldigt sie sich fast für ihre langen Antworten. Auf den ersten Blick schwer vorstellbar, dass diese sanfte Frau mit dem Kurzhaarschnitt und dem unauffälligen Kostüm ein Jahr zuvor eine regelrechte Revolution angezettelt hat.

Denn Jill Ader ist nicht nur die erste Frau an der Spitze von Egon Zehnder, eine der führenden Headhunterfirmen der Welt. Sie ist außerdem in einer Art Putsch Präsidentin geworden. Seit der Firmengründer Egon Zehnder im Jahr 2000 die Unternehmensleitung abgab, galt die ungeschriebene Regel, dass der Geschäftsführer automatisch ins Amt des Verwaltungsratspräsidenten aufrückt, wenn dieser sein Amt niederlegt. So sollte 2018 eigentlich Rajeev Vasudeva Präsident werden - doch zum ersten Mal gab es eine Gegenkandidatin: Jill Ader. Ihr kühner Plan ging auf, die rund 250 Partner der Firma wählten sie zur "Chairwoman" und gaben sich damit als erste der fünf größten Personalberater weltweit eine weibliche Chefin.

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Ausgerechnet Ader, die seit bald einem Vierteljahrhundert für Egon Zehnder arbeitet und im Gespräch mehrmals die besonderen Werte und Traditionen der Firma hervorhebt. In der Geschichte des Unternehmens sei das schon ein Einschnitt gewesen, räumt sie ein. "Es hat lange gedauert, bis ich den Mut dazu gefunden habe." Dabei fand es die Beraterin schon länger unangemessen, Kunden davon abzuraten, den Konzernchef automatisch zum Präsidenten zu machen - und selbst an dieser Praxis festzuhalten. Schließlich fragten Kollegen sie, ob sie nicht Präsidentin werden wolle. Der Gedanke war alles andere als abwegig, Ader hatte schon viele Jahre Führungspositionen bei Egon Zehnder inne, war Leiterin des Londoner Büros, saß erst in der Geschäftsführung und dann im Verwaltungsrat. Trotzdem wehrte sie zunächst ab, hielt den Schritt für zu gewagt. Doch der Gedanke ließ sie nicht los, sie dachte auch an ihre Teilhaberkollegen, die zum ersten Mal eine echte Wahl hätten - und kandidierte.

Nun sitzt Ader in einem herrschaftlichen Sitzungszimmer und trinkt schwarzen Tee. Sie ist Chefin eines internationalen Unternehmens mit einem Jahresumsatz von knapp 740 Millionen Schweizer Franken. Mehr als 460 Berater arbeiten weltweit für Egon Zehnder. Sie suchen nach Führungspersonal, beraten Firmen bei ihrer Nachfolgeplanung, unterstützen Aufsichts- und Verwaltungsräte in ihrer Arbeit, beurteilen das Management von Unternehmen und bieten auch Programme zur Führungskräfteentwicklung an. Dabei gilt die 1964 gegründete Schweizer Firma als Sonderfall unter den großen Personalberatungen: Bei Egon Zehnder herrschen ein paar strenge Regeln, die das Geschäft auf den ersten Blick eher lähmen, zum Beispiel das in der Branche einzigartige Vergütungsprinzip, das ohne Provisionen auskommt und sich stattdessen an Seniorität orientiert. Oder der Grundsatz, keine Berater von der Konkurrenz einzustellen. Potenzielle Kandidaten dürfen außerdem nicht von anderen Zehnder-Kunden abgeworben werden, und wer schon einmal von Zehnder-Beratern erfolgreich an die Spitze eines Unternehmens vermittelt wurde, ist für immer tabu. So dauert die Suche mit Egon Zehnder oft länger als bei der Konkurrenz, doch offenbar lohnen sich die eisernen Regeln für die Zürcher: Obwohl dem Unternehmen Einschnitte prophezeit wurden, auch durch die vielen digitalen Job-Plattformen, befindet es sich weiterhin auf Wachstumskurs. In Deutschland ist die Firma Marktführerin, international zählt sie zu den Top 5.

"Neugierde, Bescheidenheit, Empathie, Verletzlichkeit, Inklusion: Das sind die Eigenschaften, die es heute braucht, um Unternehmen zu führen."

Jill Ader hört zum ersten Mal von Egon Zehnder, als sie Mitte der Neunziger selbst als mögliche Kandidatin kontaktiert wird. Zu diesem Zeitpunkt hat die verheiratete Mutter von drei Kindern einen bemerkenswerten Aufstieg hinter sich. Aufgewachsen in einer Mittelklasse-Familie im Nordwesten Englands "ohne große Privilegien", zieht es sie in die Hauptstadt, wo sie an der London Business School ihren MBA macht. Sie ist begeistert von den endlosen Möglichkeiten in der Finanzstadt, beginnt zu arbeiten, sammelt Erfahrung im Einzelhandel, in der Strategieberatung und im Bankensektor. "An Personalberatung habe ich nie gedacht, aber ich war damals schon fasziniert von Menschen, ihrer Motivation und was das für ein Unternehmen bedeuten kann." Als Ader schließlich von Egon Zehnder als Beraterin angeworben wird, fühlt es sich für sie stimmig an.

Es ist vor allem die Führungskräfteentwicklung, die sie interessiert. Jill Ader möchte "das Potenzial freilegen", das in den Menschen schlummert, will ihnen helfen "die größte Version von sich selbst" zu werden. Sie arbeitet an Entwicklungsangeboten bei Egon Zehnder, erfindet ein Programm zur Nachfolgeplanung für Konzernchefs. Firmenangaben zufolge zählen diese Bereiche heute zu den Wachstumsfeldern von Egon Zehnder. Als neue Präsidentin will Ader noch einen Schritt weitergehen. Sie zählt auf: Neugierde, Bescheidenheit, Empathie, Verletzlichkeit, Inklusion. "Das sind die Eigenschaften, die es heute braucht, um Unternehmen zu führen und zu verändern", sagt sie - "letztlich Eigenschaften, die als weiblich gelten." Führung sei heute zu komplex für Chefinnen und Chefs, die glauben, alle Antworten zu kennen. Durchsetzungsvermögen, Boardroom-Präsenz, Ergebnisorientierung - in Aders Augen alles Dinge, die heute nicht mehr alleine funktionieren. "Dabei haben Männer wie Frauen diese sogenannten weiblichen Eigenschaften! Wir tendieren nur dazu, sie zu verleugnen."

Jill Ader will erreichen, dass die kommende Generation von Führungskräften beginnt, ihre "weiblichen" Züge zu nutzen. Nicht nur, weil sie es für den unternehmerisch richtigen Weg hält. Wer Bescheidenheit und Empathie zu Führungsqualitäten erhebt, wird weiblichere, diversere Leitungsteams bekommen - für Jill Ader schlicht eine Frage von Gerechtigkeit. "Man will ja schließlich nicht große Entscheidungen treffen und die Hälfte der Bevölkerung außen vor lassen."

Noch passiert das aber ziemlich oft. Laut einer Egon-Zehnder-Studie, die große Unternehmen in 44 Ländern untersucht, haben nur 3,7 Prozent der Firmen eine weibliche Chefin. Und auch unter den 500 wichtigsten US-Firmen finden sich nur 33 mit einer Frau an der Spitze. Ist der heftige Frauenmangel in den Chefetagen nicht auch unter anderem Egon Zehnders Verschulden? "Letztlich entscheiden ja unsere Kunden, aber wir versuchen, größeren Einfluss zu nehmen als in der Vergangenheit", sagt Ader. So gab sich ihre Firma 2014 das Ziel "25 by 25": 25 Chefinnen bei den 100 größten Firmen an der Londoner Börse bis 2025. Seit fünf Jahren gibt es außerdem das "Leaders and Daughters"-Programm, bei dem Führungskräfte ihre Töchter mitbringen und sich von ihnen erzählen lassen, wie es ist, als Frau in der Unternehmenswelt zu bestehen. "Wir haben Frauen auch unterstützt, indem wir sie in unsere Programme aufgenommen haben, selbst wenn ihre Firmen nicht dafür bezahlen wollten", ergänzt Ader.

Deutschland und ihre neue Schweizer Heimat empfindet die Britin in puncto Diversität übrigens als erstaunlich schwerfällig. "Berufstätige Frauen mit Kindern haben mir erzählt, dass sie hier bemitleidet werden, wenn sie erzählen, dass sie arbeiten", bemerkt Ader, und als es im Gespräch um das verspätete Schweizer Frauenwahlrecht geht, rutscht ihr ein "Schockierend!" heraus. Diplomatie hat auch bei Jill Ader ihre Grenzen.

© SZ vom 14.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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