Mittwochsporträt:Hoffen auf Mad Max

Boing verliert immer mehr Marktanteile an seinen Konkurrenten Airbus. Konzern-Chef Muilenburg will das nicht länger hinnehmen. Eine neue Strategie täte dem US-Unternehmen gut, das 100 Jahre alt wird.

Von Jens Flottau, Frankfurt

Der junge Dennis Muilenburg hatte noch Träume. Er war Mitte 30 und ein ehrgeiziger Luft- und Raumfahrtingenieur. Muilenburg arbeitete mit am Boeing-Entwurf für den Joint Strike Fighter, den großen neuen Kampfjet für die US-Militärs. "Wenn ich ihn mir vorstelle, dann sehe ich ihn schweben, von Flugplätzen starten, um Schiffe herumfliegen. Und manchmal sehe ich ihn sogar das Lockheed-Flugzeug abschießen."

So schilderte er es in den Neunzigerjahren in einer Fernsehdokumentation. Heute wird er sich vielleicht wünschen, seine Träume für sich behalten zu haben, ganz sicher sogar, wenn er gewusst hätte, wie die Geschichte weitergeht. Denn nicht Boeing hat am Ende den Zuschlag für den Joint Strike Fighter bekommen, sondern Lockheed Martin. Und in der Biografie des heutigen Boeing-Chefs machen sich kernige Aussagen über die Konkurrenz auch nicht unbedingt ideal, weswegen sich der mittlerweile 52-Jährige nun sehr an die Textvorlagen aus dem Haus hält.

Im Laufe der vergangenen Monate hat Muilenburg nach und nach alle Posten seines Vorgängers Jim McNerney übernommen und ist nun wirklich an der Spitze des Konzerns angekommen, den er 1985 zum ersten Mal als Praktikant kennengelernt und seither nicht mehr verlassen hat. Er ist so einer, wie sie ihn sich wünschen beim größten Luft- und Raumfahrtunternehmen der Welt: Direkt vom Ingenieursstudium hinein in irgendeine Entwicklungsabteilung, die für eines der Tausenden von Projekten zuständig ist. Und dann immer hoch die interne Karriereleiter. Es ist ein ganz anderer Weg als der von McNerney, der 2005 nach glänzender Karriere von außen dazustieß, aber nie ganz die Vorbehalte gegen einen überwinden konnte, der nicht immer schon dabei gewesen ist. Tradition und Zusammengehörigkeit zählen eben etwas in einem Unternehmen, das in diesen Tagen 100 Jahre alt wird.

Am 15. Juni 1916 flog zum ersten Mal das Model 1, ein Wasserflugzeug, das Unternehmensgründer William Boeing mitentwickelt hatte. Im Juli entstand dann in Seattle die Pacific Aero Products Company, die später in Boeing Airplane Company umbenannt wurde. Der kleine Holzschuppen in Seattle war nicht nur der Nukleus für Boeing, sondern auch für United Airlines, bis heute eine der größten Fluggesellschaften der Welt. Auch United Technologies (UTC), Muttergesellschaft unter anderem des Triebwerksherstellers Pratt & Whitney, ist Mitte der Dreißigerjahre entstanden, als Boeing in drei Teile aufgespalten wurde. Die amerikanische Regierung war damals der Meinung, dass das Unternehmen zu sehr von monopolistischen Strukturen profitierte und ließ ein Gesetz beschließen, demzufolge ein Konzern nicht gleichzeitig eine Fluggesellschaft betreiben und Flugzeuge bauen dürfe. Über 80 Jahre sind seit der Aufspaltung vergangen.

Der echte Aufstieg Boeings begann nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem, als das Unternehmen mit der 707 ins Jet-Zeitalter einstieg. Spätestens seit der Übernahme von McDonnell Douglas 1998 hatte der Konzern zwei starke Standbeine - Zivilflugzeuge und Kampfjets. Doch zuletzt hat sich das Gewicht mangels militärischer Aufträge stark zu den zivilen Jets verschoben, die mittlerweile für zwei Drittel des Umsatzes stehen.

Muilenburg, einst im unterlegenen Team des Joint Strike Fighter aktiv, steht nun vor seiner nächsten großen Aufgabe: Er muss verhindern, dass Boeing auch im zivilen Flugzeugbau dauerhaft Marktanteile verliert. Im Moment scheint das Unternehmen vor einem großen Dilemma zu stehen. Unter dem Druck der Kunden (und ein bisschen des Neuankömmlings Bombardier) hatte Konkurrent Airbus beschlossen, die Baureihe A320 für Kurz- und Mittelstrecken zu modernisieren und mit neuen Triebwerken auszustatten. Boeing beschloss eine ähnliche Verjüngungskur für die 737. Lange Jahre war das Duopol stabil, keiner der beiden konnte sich vom anderen bei den Marktanteilen wesentlich absetzen. Doch zuletzt hat sich das geändert: Der Marktanteil von Airbus lag im vergangenen Jahr bei den Kurz- und Mittelstreckenflugzeugen bei 68 Prozent. Die A320neo ist nach Einschätzung der Kunden sehr viel besser als die A320, die Airlines trauen Boeing bei der 737 MAX keinen ähnlichen Sprung zu. Das Flugzeug soll 2017 erstmals ausgeliefert werden.

Farnborough International Airshow 2012

Dennis Muilenburg leitet Boeing seit Juli 2015. Zuvor war er die rechte Hand seines Vorgängers McNerney. Dieser hinterließ gute Zahlen, aber auch Probleme.

(Foto: Chris Ratcliffe/Bloomberg)

32 Prozent Marktanteil bei den Bestellungen ist kein Zustand, den Boeing auf Dauer akzeptieren kann. Wenn sich nicht bald etwas ändert und der Trend sich umdreht, dann werden Muilenburg und Zivil-Chef Ray Conner handeln müssen. Die Frage ist nur: Wie?

Drei Szenarien stehen zur Auswahl: Die aktuelle 737-Familie wird noch einmal nachgebessert. Alternativ könnte Boeing den Bau eines komplett neu entwickelten Flugzeuges in der gleichen Größenkategorie vorziehen, der bisher erst für Mitte bis Ende des nächsten Jahrzehnts vorgesehen ist. Oder das Unternehmen beschließt, die 737 MAX nachzubessern und zusätzlich in einen neuen Jet zu investieren, der eher 200 bis 250 Sitze hat statt wie bislang üblich 150 bis 200. Boeing würde Airbus dann für ein paar Jahre und bei der jetzigen Generation den Vortritt lassen und anschließend von oben mit neuer Technologie angreifen.

Das Problem ist: Boeing kann sich bestenfalls ein zusätzliches Milliardenprogramm leisten. Was auch immer Muilenburg und sein Vize Conner entscheiden, es muss sitzen. Der Konzern leidet immer noch unter den horrenden Kosten für die um Jahre verspätete Boeing 787. Der neue Langstreckenjet gilt zwar mittlerweile als technisch gelungen, die Airlines schwärmen vom niedrigen Spritverbrauch, nachdem die ärgsten Software-Macken behoben sind. Aber Boeing ist darauf angewiesen, dass die 787 sich sowohl in hohen Stückzahlen als auch mit hohen Margen verkaufen lässt. Sonst fallen die auch für die Bilanzierung relevanten Annahmen in sich zusammen.

Airbus-Verkaufschef John Leahy kann sich derzeit, was seinen ärgsten Widersache angeht, entspannt zurücklehnen. "Die sollen sehr gerne 15 Milliarden Dollar für ein neues Flugzeug ausgeben, das auf der heutigen Technologie basiert", sagt er. "Wir warten dann einfach zehn Jahre und bauen dann etwas wirklich Neues." Und die geplante verbesserte Version der 737 MAX nennt er einfach nur "Mad Max" nach dem Hollywood-Film.

Dennis Muilenburg hat ausrichten lassen, dass das gar kein so schlechter Name sei. "Mad Max" sei immerhin im Kino ein echter Kassenschlager geworden.

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