Süddeutsche Zeitung

Mittwochsporträt:Einfach nur raus

Lesezeit: 5 min

Jan Talavasek war von klein auf begeistert von Fahrrädern. Als Chefentwickler für Elektro-Bikes beim US-Hersteller Specialized lebt er seine Leidenschaft aus. Das Geschäft boomt, auch wegen der Corona-Krise.

Von Uwe Ritzer

Der Professor wollte von seinen Erstsemestern wissen, warum sie sich ausgerechnet für ein Studium der Fahrzeugtechnik entschieden haben. Jedem Einzelnen stellte er die Frage: Warum sind Sie hier? Manche wussten es selber nicht so genau und drucksten herum. Andere ließen erkennen, dass sie von einer Karriere in der Autoindustrie träumen. Jan Talavasek fiel aus der Reihe. "Weil ich Fahrräder bauen will", antwortete er. Selbst ein Vierteljahrhundert später erinnert sich Talavasek gut an die Reaktion des Professors. "Er hat mich für komplett verrückt gehalten."

Man schrieb die 1990er-Jahre. Fahrräder fristeten damals zwar ein massenhaftes, aber eher unbeachtetes Dasein. Sie galten als simpel, das Gegenteil von Hightech. Sie rollten im Alltag einfach mit. Man hatte ein Fahrrad - oder auch nicht. Die sehr Sportlichen kauften sich leichte Rennräder mit besonders schmalen Reifen und nach unten geschwungenen Lenkern. Einige Wagemutige fielen auf, weil sie auf neuartigen Bikes mit Breitreifen statt über Straßen durch Wälder strampelten, und dort bevorzugt die Hänge rauf und runter. Kollektive Begeisterung für den (wie man heute weiß dopinggetränkten) deutschen Profi-Rennstall Team Telekom kam erst gegen Ende des Jahrzehnts auf.

Nichts deutete darauf hin, dass Fahrräder einmal als Fortbewegungs- und Trainingsgeräte gleichermaßen einen Hype erleben könnten und ihnen und ihren Fahrerinnen und Fahrern gesellschaftliche und politische Zuwendung widerfahren würde. Noch unvorstellbarer schien es, dass die Velos nicht ausschließlich durch menschliche Trittkraft, sondern zusätzlich von kleinen Elektromotoren angetrieben werden könnten. "Ob mit oder ohne Strom", sagt Jan Talavasek "nirgendwo ist das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine so eng und besonders wie bei einem Fahrrad."

Aus dem Fahrradenthusiasten an der Technischen Hochschule in Nürnberg ist einer der weltweit gefragtesten Fahrradkonstrukteure geworden. Seit 15 Jahren arbeitet der im Schwarzwald geborene und in Franken aufgewachsene Talavasek für den US-Hersteller Specialized. In der Firmenzentrale in Morgan Hill, einer Kleinstadt in Kalifornien, hat er anfangs Mountainbikes entwickelt und es zum Leiter der Engineering-Abteilung gebracht. Seit 2011 ist der drahtige und durchtrainierte Technikfreak Chef eines Teams von 35 Spezialisten aus 13 Nationen, die in Cham in der Schweiz E-Bikes entwickeln, respektive Pedelecs (siehe nebenstehenden Kasten). Zum Preis zwischen 2400 und 16 000 Euro.

Denn Geld spielt bei dem Thema scheinbar keine Rolle (mehr). Gekauft wird wie verrückt; noch nie gaben die Deutschen mehr Geld für Fahrräder aus. Speziell der Markt für Elektro-Bikes boomt und "Corona hat das Geschäft exponentiell beschleunigt", sagt Talavasek. Weil das Gesundheitsbewusstsein steigt und viele Menschen sich im Freien bewegen wollen. Weil Großstädter aus Furcht vor dem Virus Busse und Bahnen meiden, aber auch nicht mit dem Auto zur Arbeit fahren und im Stau stehen möchten. Weil manche den Urlaub storniert und das Geld stattdessen in Fahrräder investiert haben.

"Das Fahrrad erlebt gerade goldene Zeiten", jubelt der Lobbyverband ADFC. Und der VDZ, der Branchenverband der Zweiradhändler, rechnete kürzlich vor, die Umsatzeinbußen in den Lockdown-Zeiten hätten die Händler in den ersten zwei Wochen danach locker aufgeholt. Vor allem dank dem Geschäft mit E-Fahrrädern. Aktuell sind vielerorts Lager und Geschäfte leer; auf Nachschub warten Händler und Kunden nicht selten ein halbes Jahr oder länger. Und auch das Internetgeschäft zog an.

"Corona ist zwar momentan ein großer Antreiber, aber auch ohne wäre der Siegeszug der E-Bikes unaufhaltsam", sagt Klaus Winkler, ein altgedienter Radsportexperte. "Selbst Leute, die sich das früher nicht vorstellen konnten, steigen vom normalen Rad auf Elektro um." Das alles erinnert einen an die Zeit, als Fernsehzuschauer massenweise ihre Röhrengeräte gegen solche mit Flachbildschirmen austauschten. Nicht weil sie mussten, sondern weil sie wollten.

Jan Talavasek sagt, er habe den Boom der E-Fahrräder "erahnt, aber niemals in dieser Dimension erwartet." Die ersten Modelle am Markt seien kaum mehr gewesen als "elektrifizierte Rollstühle für Menschen, die keine normalen Fahrräder fahren können", sagt der 44-Jährige. "Das hat sich aber längst gewaltig geändert." Die in den Anfangsjahren klobigen Batterien und Elektromotoren wurden und werden auch in Zukunft immer kleiner. In manchen Modellen verschwinden sie bereits fast unsichtbar im Fahrradrahmen. "Auch Ästhetik und Design werden immer anspruchsvoller", sagt Talavasek. Einher mit alledem sinkt das Gewicht. Und mithilfe von GPS, Sensoren und Apps werden die E-Räder immer smarter.

"Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, rollende Spielekonsolen zu bauen", warnt er. "Die Leute wollen auf ihren E-Bikes ja gerade raus aus ihrer digitalen Welt, sie suchen die Natur." Auch zu verkappten Elektromopeds dürften E-Bikes nicht hochgerüstet werden. "Das besondere Fahrradfahrgefühl muss ganz oben stehen. Die Menschen wollen spüren, dass sie selber fahren und der Elektromotor ihnen nur dabei hilft, weitere Strecken zurückzulegen, leichter Berge hochzukommen oder Lasten zu befördern."

Darin gründe sich nämlich die Faszination von Elektrorädern. "Selbst untrainierte Einsteiger haben schnell Erfolgserlebnisse, für die sie mit einem herkömmlichen Fahrrad sehr lange trainieren müssten."

Er selbst kommt aus der alten Schule. Als Kind und Jugendlicher fuhr er für den fränkischen Radclub Germania Weißenburg Rennen. Als Schüler bekam er sein erstes Mountainbike geschenkt und während des Fahrzeugtechnikstudiums konstruierte und baute er mit zwei Kumpels "Mole Number Five", ein Mountainbike für Downhill-Rennen, um also in steilem Gelände möglichst schnell nach unten zu fahren. "Ich bin auch heute noch ein totaler Bewegungs- und Naturmensch, der viel im Wald und auf dem Berg unterwegs ist", sagt Talavasek, der mit einer Hebamme verheiratet und Vater dreier Kinder ist.

Specialized gilt als Porsche unter den Fahrrädern

Nach Kalifornien war er gezogen, nachdem es mit seinem ersten Arbeitgeber nach dem Studium, der deutschen Radschmiede Votec, wirtschaftlich bergab ging und Specialized ihm ein Jobangebot machte. Ausgerechnet jene Marke, die 1981 mit dem "Stumpjumper" das erste Mountainbike auf den Markt brachte.

In der Radszene genießt Specialized einen Ruf vergleichbar mit jenem von Porsche oder Tesla in der Autowelt. Nämlich eine sport- und innovationsgetriebene Marke zu sein, ein Trendsetter mit Ansprüchen an Ästhetik und Funktionalität. Die Zielgruppe ist dementsprechend jünger, sport- und technikaffin.

"Wir entwickeln nicht nur Rahmen, sondern komplette E-Bikes", sagt Talavasek. Die E-Motoren kauft Specialized bei Brose und Mahle ein, zwei angestammten Autozulieferern aus Coburg und Stuttgart. Die Batteriezellen kommen aus Südkorea und Japan. Gefertigt werden die Elektroräder hauptsächlich in Taiwan. Der E-Bike-Boom an sich werde schon noch einige Zeit anhalten, glaubt Talavasek. Aber nicht im aktuellen, extremen Ausmaß und auch nicht überall. "In vielen Ländern verlieren die Menschen ihre Jobs infolge der Corona-Krise." Also geben sie auch nicht mehr ohne Weiteres mehrere Tausend Euro für ein Fahrrad aus.

Der deutsche Markt ist in Europa zwar der größte, bezogen auf die Einwohnerzahl liegt aber die Schweiz vorn. So fiel die Wahl auch nicht zufällig auf das Land, als Talavasek seinen Arbeitgeber darum bat, aus Kalifornien zurück nach Europa ziehen und dort arbeiten zu können. In den USA habe er auf keinen Fall dauerhaft bleiben wollen, erzählt er, "das Land an sich hat mich nie fasziniert".

Also baute Specialized an seiner Niederlassung in Cham im Kanton Zug eine alte Papierfabrik um. Jan Talavasek und seine Leute richteten in dem Loft ein neues Design- und Entwicklungszentrum ein; samt Radwerkstatt, Prototypenfertigung - und zur Entspannung einem Kraftraum und einem Platz zum Angeln am unmittelbar angrenzenden Fluss.

Alternativ war intern auch die Niederlande als Standort im Gespräch. Jan Talavasek lehnte das aber umgehend ab: "Da gibt es keine Berge, das ging gar nicht."

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Quelle:
SZ vom 02.09.2020
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