Mittwochsporträt:Die Reiseabwicklerin

Mittwochsporträt: Für bunte Reisekataloge interessieren sich die Kunden von Claudia Bögl derzeit weniger, viele wollen ihren gebuchten Urlaub stornieren.

Für bunte Reisekataloge interessieren sich die Kunden von Claudia Bögl derzeit weniger, viele wollen ihren gebuchten Urlaub stornieren.

(Foto: Claus Schunk)

Unter den coronabedingten Beschränkungen im Tourismus leiden vor allem unabhängige Reisebüros wie das von Claudia Bögl. Zwar sollen diese nun finanzielle Hilfe bekommen. Doch für viele kleine Agenturen bleibt die Corona-Krise existenzbedrohend.

Von Lea Hampel, Schliersee

Die Bandbreite an Emotionen, die Claudia Bögl derzeit durchlebt, spiegeln sich auf den ersten Metern in ihr Reisebüro. Links und rechts der weißen Tür stehen zwei Bambusse und das weltweite Ultimativsymbol für Urlaub: ein Liegestuhl. Doch schon an der Tür hängt ein Plakat zur Rettung der Reisebranche, daneben ein Schild, dass sie derzeit nur am Vormittag persönlich berät. Wenige Schritte dahinter steht, wie auf einem Traueraltar, neben zwei Plastikflaschen Desinfektionsmittel eine Kerze. Die Chefin des Reisebüros in Schliersee hat sie von einem Kunden bekommen. Dazu eine Karte: "Ich denke an Dich und wünsche Dir viel Kraft."

Für Claudia Bögl, 55 Jahre, war dieses Geschenk einer der wenigen erfreulichen Momente in den vergangenen Wochen. Seit dem 17. März besteht ihre Arbeit darin, wie sie sagt, Dinge "plattzumachen". Flüge, Safaris, Rundreisen, fast alles, was sie für Kunden bis Ende August geplant hatte, hat sie "plattgemacht". Weil der Veranstalter abgesagt hat, weil das Land seine Grenzen noch zuhat. Oder, weil die Kunden nicht wollen. Eben war wieder eine Dame am Telefon. Ihre Reise nach Mallorca ist bezahlt. Aber Maske am Buffet, Distanz am Pool, das sei kein Urlaub, so die Kundin. Claudia Bögl sagt: "Ich habe das Gefühl, der Sommer ist so gut wie gelaufen." Nicht nur der ihrer Kunden, sondern auch ihrer.

Wie Bögl ergeht es derzeit vielen in der Branche. Die Corona-Krise hinterlässt tiefe Spuren. Ein Report der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung hat in der vergangenen Woche eindrucksvolle Zahlen ans Licht gebracht: 1,1 Billion Euro Einnahmen haben weltweit im Tourismus gefehlt, in nur vier Monaten. Hinter dieser Zahl stehen Busfahrer, Hotelpagen, Zimmermädchen - und diejenigen, die oft dafür sorgen, dass Menschen überhaupt in andere Länder kommen, dort essen, Museen besuchen, Geld ausgeben. Menschen wie Claudia Bögl, die eines von 11 000 deutschen Reisebüros führt, das nicht Konzerne im Rücken hat. Das sind Reisebüros mit selbständigen Betreibern, die von Provisionen leben.

Dabei wurde den Reisebüros schon vor Jahren ihr Ende prophezeit. Die Digitalisierung, eine sich verändernde Kundschaft, die größere Macht einzelner Reisekonzerne - die Gründe, warum die kleinen Reisebüros vor Ort pleitegehen würden, waren in den Prognosen vielfältig. Was quasi nie darin vorkam: eine Pandemie. Auch in Claudia Bögls Plänen existierte die nicht. Vor 40 Jahren ist sie eher zufällig in der Branche gelandet. Mit 15 wusste sie nicht, wohin es gehen sollte. Da bot ihr ein Bekannter ihres Vaters einen Job in seinem Reisebüro im nahen Rottach-Egern an. Schnell lernte sie die Arbeit lieben: Mit 27 leitete sie ein Büro, 1992 eröffnete sie ihr eigenes. Selbst kurz nachdem 1997 ihr Sohn zur Welt kam, war sie jede Woche im Geschäft. Vor fünf Jahren hat sie die Fläche verdoppelt: Auf 140 Quadratmetern an der Hauptstraße stehen ein Surfbrett und Aufsteller für die Hurtigruten, dazu ein Modell des Luxuskreuzfahrtschiffs MS Europa. "So schön ist es hier, gell?", sagt sie. Vor eineinhalb Wochen hätte sie Firmenjubiläum gehabt - und Anlass zum Feiern. "Richtig gut gelaufen" sei es all die Jahre, sagt sie. Selbst als nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kurzzeitig viele Angst hatten in die USA zu fliegen, "ging das nicht monatelang". Auch als die Wirtschaft 2008 in Folge der Lehman-Krise einbrach, merkte sie nicht viel. Die Zahl derjenigen, die von Schliersee aus in die Welt wollten, nahm weiter zu.

Die Reisefachfrau unterschätzte die Krise anfangs, wie viele andere auch

Vermutlich hat sie auch deshalb, wie viele, die Corona-Folgen unterschätzt. "Als im Januar erste Bilder aus China zu sehen waren, schien das alles sehr weit weg", sagt sie. Sie findet das selbst im Nachhinein noch blauäugig. Sie hatte viel zu tun in dieser Zeit und achtete weniger auf das Weltgeschehen. Ist es draußen schmuddelig, träumen die Menschen vom Sommer. 40 Prozent des Jahresumsatzes macht Bögl im Januar und Februar. Dass die Bilder aus Wuhan Folgen am Schliersee haben könnten, ahnte sie erst, als erste Kunden mailten, wie es mit ihren Reisen ausschaue. Doch selbst damals, im März, buchte sie noch. Bis jede Woche eine andere Region zum Risikogebiet erklärt wurde - und Mitte März Außenminister Heiko Maas (SPD) das Reisen untersagte.

Die Tage danach seien, wie sie sagt, "wie ein Science-Fiction-Film". Morgen für Morgen geht sie in ihr Büro, beantwortet E-Mails und wütende Anrufe, klickt sich durch Stornovorgänge. Auf dem Bildschirm gegenüber von ihrem Schreibtisch laufen unterdessen Schreckensnachrichten aus Südamerika, Asien und anderen Regionen der Welt. Darunter viele Orte, die Tourismusexperten sonst gern "Destinationen" nennen. Bis Ende März sind Bögl und ihr Team noch zu dritt. Seit Anfang April sind ihre Angestellten zu 100 Prozent in Kurzarbeit, von ihrer Auszubildenden hat sie sich getrennt. "Ich halt hier die Storno-Stellung", sagt sie und holt eine blaue Plastikbox hervor. Früher war die für Altpapier. Mittlerweile sammelt sie darin Stornovorgänge - Dutzende Plastikfolien mit Papier. "Das alles vernichtet die Arbeit eines halben Jahres", sagt sie.

Das Problem ist: Bögl verdient derzeit nicht nur kein Geld, sie muss Verdientes zudem zurückzahlen. Die Betreiber unabhängiger Reisebüros leben von Provisionen. Etwa acht bis elf Prozent vom Buchungspreis werden zum Teil direkt nach der ersten Anzahlung des Kunden bezahlt, zum Teil später. Fällt die Reise aus, fällt auch die Provision weg. In Bögls Worten: "Für keine Buchung kriegst du nix."

Bei ihr treffen derzeit vor allem Schreiben ein, in denen andere Firmen gezahlte Provisionen zurückfordern. Das offenbart das nächste Problem. Was passiert, wenn sie beispielsweise die TUI anruft, führt sie kurz vor. Sie tippt eine Servicenummer ins Telefon, es folgt stets die gleiche knappe automatische Ansage: Bitte alles schriftlich einreichen. Seit Mitte März gehe das so, sagt Bögl. Weil Kunden aber in Ägypten, Neuseeland und auf den Kanaren festsaßen, weil sie Fragen hatten und haben, zu Einreiseregelungen und Hygienemaßnahmen, hat Bögl mehr Arbeit als sonst. "Von den Veranstaltern bekommen wir nicht mal eine Bearbeitungsgebühr dafür, dass wir die ganze Kundenbetreuung und Rückabwicklung übernehmen", sagt sie. Weil unklar ist, wann die Kunden wieder wohin reisen können, berät Bögl viele Kunden nur, bevor sie wieder Geld verdient. Zwar soll ein Teil der Provisionen durch das zuletzt beschlossene Unterstützungspaket der Bundesregierung ersetzt werden. Doch erst ab Ende dieser Woche soll es möglich sein, solche Anträge einzureichen.

Still hinnehmen wollte sie das Desaster nicht, deshalb ging sie demonstrieren

Ob und wie das klappt, war jedoch lange unklar. Weil die 9000 Euro Überbrückungshilfen pro Betrieb, die es bisher gab, nicht reichten, hat Claudia Bögl ihre Fixkosten runtergefahren. Sie hat nur noch zwei statt vier Telefonanschlüsse, hat ihren Hauskredit "plattgemacht" und zahlt sich privat kein Geld aus. Wie ihr geht es fast allen unabhängigen Reisebüros. Deshalb haben die sich in der Krise stärker als zuvor vernetzt. Mitte Mai war Claudia Bögl auf der ersten richtigen Demonstration ihres Lebens, vor dem Bayerischen Landtag. "Wir waren richtig laut", sagt sie stolz. Sie ist dem Verband unabhängiger selbständiger Reisebüros beigetreten und Gruppen in sozialen Netzwerken. Hat sie eine Frage, postet sie diese und hat binnen Minuten Dutzende Antworten, aber auch ermunternde Worte. "Das hilft beim Durchhalten", sagt sie. Es ist nötig, nach Wochen der Krise lacht sie zwar gelegentlich ob der absurden Situation. Aber genauso oft, wie sie das Wort "plattmachen" verwendet, zuckt sie mit den Schultern.

Ist sie wirklich verzweifelt, dann hilft ihr der Blick vor die Tür. In der Hauptstraße von Schliersee staut sich oft der Verkehr. Münchner, die ins Grüne wollen, Urlauber aus anderen Bundesländern, Motorradfahrer auf Spritztour. Es brummt und knattert. So sehr es Bögl sonst nervt, dieser Tage ist es für sie ein gutes Zeichen: Die Menschen wollen raus. Und sie kommen wieder zu ihr. Den Weg durch die Bambuspflanzen wagt an diesem Vormittag ein älterer Herr, er will nach Griechenland. Es ist nicht der erste Kunde heute. Sie hat schon ein Ferienhaus für die Toskana gebucht. Für Pfingsten 2021. Der Winter dazwischen, mit einer potenziellen zweiten Welle? "Wird noch spannend."

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