Mittwochsporträt:Die Furchtlose

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Sie liebt Wissenschaft, Technik und Fortschritt. Seit fast vier Jahren ist Ginni Rometty Chefin es IBM-Konzerns. (Foto: Kevin Lamarque/Reuters)

Ginni Rometty hat eine der schwierigsten Aufgaben in der US-Wirtschaft übernommen: Sie muss IBM wieder fit bekommen. Dabei soll ihr der Supercomputer Watson helfen.

Von Kathrin Werner

Ginni Rometty hat keine Angst. Sie hat die Dunkelheit gesehen, sagt sie, die Schicksalsschläge, die das Leben bringen kann. Und sie hat gesehen, dass man gewinnen kann, wenn man kämpft. Dass man sein Leben selbst in der Hand hat. "Ich bin furchtlos", sagte sie dem Wall Street Journal. "Meine Mutter hat uns beigebracht, furchtlos zu sein."

Virginia Rometty, genannt Ginni, ist eine der mächtigsten Frauen der Wirtschaftswelt. Die Chefin des großen alten Computer- und Softwarekonzerns IBM trägt die Verantwortung für 93 Milliarden Dollar Jahresumsatz, Absatzmärkte in 170 Ländern und 380 000 Mitarbeiter - mehr als die Einwohnerzahl von Bochum. 90 Prozent aller Banken, 80 Prozent aller Fluggesellschaften und neun der zehn größten Ölkonzerne der Welt arbeiten mit Technik von IBM. Seit 1981 hat IBM Personalcomputer in Millionen Haushalte gebracht. IBM - Spitzname: Big Blue - ist eines der mächtigsten Unternehmen der Welt. Aber es ist auch ein Konzern, der schrumpft. 14 Quartale hintereinander sind die Umsätze des Unternehmens nun gefallen, das einst sein Geld mit Lochkartenlesern, Magnetstreifen und Disketten verdiente. PCs verkauft IBM heute nicht mehr. Am Dienstag musste IBM mitteilen, dass die US-Börsenaufsicht SEC Untersuchungen gegen den Konzern führt.

Es gehe um die Bilanzierung von Umsätzen in den USA, Großbritannien und Irland. Auch das sorgt für Unruhe. Rometty muss eine Zukunft für Big Blue finden. Es ist ein Job, der Angst machen könnte.

Aber die hat die 58-Jährige nicht. Ihre Mutter ist ihre Heldin, sagt sie, in den wenigen Interviews und öffentlichen Reden, die Rometty gibt, redet sie fast immer von ihrer Mutter. Mit ihren drei jüngeren Geschwistern wuchs Rometty in einer Mittelklassefamilie in Chicago auf, bis der große Schlag kam, als sie 15 Jahre alt war. Der Vater verließ die Familie, die Mutter stand mit vier Kindern und ohne Geld, Ausbildung und Arbeit alleine da.

Ihre Mutter hat nie geklagt, sie hat mehrere Jobs gleichzeitig angenommen, einen Abschluss geschafft, ihr ganzes Leben neu organisiert und alle Kinder zur Uni geschickt. "Wir haben sie nie weinen gesehen", sagt Rometty. "Sie hat immer getan, was zu tun war." Wenn ihre Mutter Nachtschichten arbeitete oder zur Abendschule ging, hat Rometty auf die kleineren Geschwister aufgepasst, den Haushalt geführt und so früh Verantwortung übernommen. "Was ich von meiner Mutter gelernt habe, ist niemals zuzulassen, dass Dinge oder andere Menschen bestimmen, wer man ist." Sie hat gelernt, dass Taten zählen.

So führt sie auch IBM. Es ist eine Mammutaufgabe, diesen Konzern zu lenken, der sich in seiner 104-jährigen Geschichte immer wieder neu erfunden hat und an dessen Wachstumsmöglichkeiten nun immer weniger Menschen glauben. Romettys Vorvorgänger hatte den Investoren versprochen, dass IBM im Jahr 2015 20 Dollar pro Aktie verdienen soll - Rometty hat das Ziel zurückgenommen. Vergangene Woche hatte sie erneut Ergebnisse vorgelegt, die unter den Erwartungen der Analysten lagen. Seit sie Anfang 2012 die Führung des Unternehmens mit Sitz im Örtchen Armonk nördlich von New York übernommen hat, ist der Aktienkurs um fast 19 Prozent eingebrochen. Der Leitindex S&P 500 ist um mehr als 60 Prozent gestiegen.

Rometty verkauft einen Geschäftsbereich nach dem anderen - der Hauptgrund für die sinkenden Ergebnisse und Mitarbeiterzahlen. Anleger und Analysten kritisieren, dass IBM nicht schnell genug in neue Wachstumsfelder einsteigt und wichtige Trends verschlafen hat.

IBM sei an einem Wendepunkt, sagt Rometty. Sie will den Konzern neu ausrichten und hat nicht vor, sich dabei allzu sehr von den kurzfristigen Plänen der Wall Street bestimmen zu lassen, die Quartal für Quartal Erfolgszahlen vorgelegt bekommen möchte - und sich um die Ausrichtung in der fernen Zukunft weniger schert. "Mein Job ist, eine Balance zu finden zwischen der Neuerfindung von IBM für den Moment und für eine beständige Zukunft", sagt sie.

Hintergrund sind die grundlegenden Umwälzungen in der Technologiebranche. Die alten Software- und Hardware-Hersteller wie Microsoft, Hewlett-Packard, Dell oder IBM bekommen Konkurrenz von Unternehmen, von denen viele noch nicht einmal wissen, dass sie mehr tun, als Bücher im Internet zu verkaufen: Amazon zum Beispiel. Unternehmen gliedern immer größere Teile ihrer Informationstechnologie in die so genannte Cloud aus, sie speichern ihre Daten also nicht mehr auf ihren eigenen Servern und lassen viele Programme nicht mehr auf den Rechnern im Büro laufen, sondern lagern sie in große, weit entfernte Rechenzentren aus. Das belastet die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen der alten Anbieter wie IBM.

Auch IBM versucht seit einiger Zeit, mit der Cloud Geld zu verdienen. Schon kurz vor Romettys Antritt begann der Konzern, seinen Kunden die sogenannte SmartCloud anzubieten. Doch Amazon Web Services, eine Tochterfirma des Onlinehändlers, war schon viel weiter, IBM konnte nicht mehr aufholen. Anfang 2013 verlor IBM sogar einen Cloud-Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes CIA - eine Peinlichkeit, schließlich ist IBM seit Jahrzehnten Ausstatter der US-Regierung. Seit Romettys Antritt drängt der Konzern mit mehr Macht - also vor allem mit größeren Investitionen - in das Boomgeschäft. Sie kaufte zum Beispiel für zwei Milliarden Dollar die Cloud-Technik-Firma Softlayer und steckte 1,2 Milliarden Dollar in zusätzliche Datenzentren. Sie hat noch andere Zukunftsfelder im Blick: Zum Beispiel will IBM den Kunden dabei helfen, die wachsenden Datenberge besser zu sortieren, das läuft unter dem Stichwort Big Data.

Auch mit dem Internet der Dinge, der Verknüpfung von allen möglichen Alltags- und Arbeitsgegenständen per Netz, will IBM verdienen. Rometty hat schon mehr als acht Milliarden Dollar für Zukäufe von mehr als 30 Unternehmen aus diesen Zukunftsfeldern ausgegeben. IBM arbeitet sogar mit dem alten Erzfeind Apple und bei der Big-Data-Analyse mit dem Kurznachrichtendienst Twitter zusammen.

Rometty will, dass IBM im Jahr 2018 etwa 40 Prozent der Erlöse mit Datenanalyse, Cloud Computing, Cybersecurity, sozialen Netzwerken und mobiler Technik verdient. Gemeinsam kamen diese Geschäfte im vergangenen Jahr auf 27 Prozent der Erlöse, 2011 waren es 15 Prozent. Von Hardware hat sich der Konzern zum großen Teil getrennt. Ein Teil des Server-Geschäfts ging an den chinesischen Lenovo-Konzern, die verlustbringende Chipsparte an die von einem arabischen Staatsfonds kontrollierte Firma Globalfoundries. IBM ohne Chips - Romettys Finanzvorstand nannte das eine "Operation zur Entfernung der Wirbelsäule". Schließlich steht der Name des Unternehmens für International Business Machines, es verkauft aber kaum noch Maschinen, sondern fast nur noch Software und Dienstleistungen. "Wir können uns nicht an unsere Vergangenheit klammern", sagt Rometty.

Rometty hat wichtige Befürworter. Warren Buffett zum Beispiel, die Investorenlegende, stockt seinen Anteil an IBM immer weiter auf, derzeit hält er schon mehr als acht Prozent und ist größter Anteilseigner. Er mache sich keine Sorgen über den niedrigen Aktienkurs, sagt der 85-jährige Finanzinvestor, in fünf oder zehn Jahren würde er schon wieder steigen. "Sie ist die perfekte Person, um dafür zu sorgen, dass der Konzern nicht immer weiter das Gleiche macht", sagt Yale-Professor Jeffrey Sonnenfeld der Financial Times. Apple-Chef Tim Cook, der vor Jahren bei IBM arbeitete, lobt: "Sie hat das Charisma und die Führungsqualitäten, die es braucht, um die zähe Kultur bei IBM zu durchbrechen."

Sie studierte Informatik, nun ist sie seit 35 Jahren im Unternehmen

Romettys derzeitiges Lieblingsthema heißt Watson. Watson ist ein Supercomputer, der nicht nur rechnen und programmiert werden kann, sondern selbst lernt. Er kann Antworten auf Fragen geben, die in natürlicher Sprache eingegeben werden. Das Programm trat 2011 in der Quizshow "Jeopardy" gegen zwei Menschen an, die dort vorher Rekordsummen gewonnen hatten. Watson ließ ihnen keine Chance. Statt die Hardware und Software des Supercomputers zu verkaufen, macht Rometty Watson zur Cloud-Dienstleistung. Eine der ersten Anwendungen, mit der IBM Geld verdienen will, ist die Medizin, vor allem die Heilung von Krebs.

Watson lernt von Hunderttausenden Fällen, kennt Patientendaten, Analysen, moderne Forschung. Selbst der schlaueste Arzt kann sich nicht so viel merken wie der Rechner. Watson kann zudem in allen Krankenhäusern gleichzeitig sein. "Das bedeutet, dass noch in unserer Zeit jeder den Goldstandard für Behandlungen von Dingen wie Krebs bekommen kann." Wenn sie über Watson spricht, leuchten ihre Augen. Kaum ein Gespräch, das sie nicht schnell auf Watson lenkt - der Rechner steht für IBMs Zukunft. Rometty liebt Wissenschaft, Technik und Fortschritt. Sie ist stets kontrolliert, ihre Haare trägt sie nach hinten gekämmt, zusammengehalten mit einem glänzenden Haarband. Wenn sie reist, trägt sie Rucksack statt Aktentasche.

"Ich bin ein sehr praktischer Typ", sagt sie. Menschen, die sie kennen, loben ihre Disziplin, Selbstkontrolle und Loyalität gegenüber dem Konzern, für den sie seit fast 35 Jahren arbeitet. Nur wenn sie über Watson spricht, vergisst sie manchmal die Zeit.

Mathe und Naturwissenschaften hat sie schon immer geliebt, schon in der Schule. An der Northwestern University studierte sie dank eines von General Motors gesponserten Stipendiums Informatik und Elektroingenieurswissenschaften. "Die Ingenieurwissenschaften haben mir beigebracht, wie man Probleme löst", sagt sie. "Egal, wie schwer das Problem ist, man findet seinen Weg hindurch." Nach dem Uni-Abschluss arbeitete sie bei General Motors, wo sie auch ihren Mann kennenlernte. Rometty stieg bei IBM durch alle Hierarchieebenen auf, bis sie vor fast vier Jahren bereit war für einen der größten Job der Wirtschaftswelt. "Ich habe mein ganzes Leben lang dafür trainiert, eine 747 zu fliegen", sagt sie. Nein, Angst hat sie nicht.

© SZ vom 28.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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