Mittwochsporträt:Das Orakel von Iserlohn

Marija Linnhoff, die umstrittene Kämpferin für die Reisebürobranche

Marija Linnhoff nimmt kein Blatt vor den Mund. Damit eckt sie an.

(Foto: oH)

Für die einen ist die Vertreterin unabhängiger Reisebüros eine Heldin, für die anderen einfach zu laut: Marija Linnhoff mischt die Reisebranche auf. Die Pleite von Thomas Cook hat sie früh prophezeit.

Von Lea Hampel, Berlin

Es war Krise, kaum was los. Nicht so wenig wie zu Corona-Zeiten, aber auch in der Wirtschaftskrise 2009 hatten die Menschen wenig Geld in der Tasche und eher ihre Sicherheit im Kopf als den Urlaub auf den Seychellen. Marija Linnhoff, damals Besitzerin eines Reisebüros in der Fußgängerzone der Stadt Iserlohn mit knapp 100 000 Einwohnern, wartete täglich auf Kunden. Da fiel ihr die Abwrackprämie auf: Kunden zum Kauf bewegen durch Extrageld - was für das Konsumgut Auto gut war, konnte für das Konsumgut Pauschalreise nicht schlecht sein, dachte sich die Geschäftsfrau. Sie stellte in ihr Schaufenster ein Schild: Wer eine Reise bucht und seinen alten Koffer mitbringt, bekommt 150 Euro Abwrackprämie. "Und schon brummte das Geschäft", erinnert sich Marija Linnhoff.

Der Stolz auf diese Mischung aus Bauernschläue und Pragmatismus ist ihr noch heute anzusehen, elf Jahre später, an einem frühherbstlichen Abend in Berlin, wo sie beruflich nun öfter zu tun hat. Mehr als eine Dekade nach der Abwrackaktion ist aus der Reiseverkäuferin nicht nur die Chefin eines wichtigen Nischenverbandes geworden, sondern eine der prominentesten und umstrittensten Figuren der deutschen Touristik. Sie wird geschätzt und geschasst. Doch fast jeder, der hierzulande mit der Branche zu tun hat, kennt ihren Namen und hat zu ihr eine Meinung.

Es braucht gelegentlich streitbare Menschen

Dabei kann man sich schon beim ersten, coronabedingten Ellenbogengruß vorstellen, dass diese Frau so manchen etablierten Touristiker aus dem Konzept gebracht hat: Linnhoff, 54, tritt elegant auf, in cremeweißer Seidenbluse mit farblich passender Handtasche. Sie hat eine tiefe Stimme und eine noch tiefere Lache. Sie raucht viel und verdrückt, während sie ihre Lebens-, Arbeits-, ja Leidensgeschichte erzählt, ein großes Schnitzel. Dass sie eine Dienstreise hergeführt hat, in einen Biergarten mit hoher Anzugdichte und Sicht aufs Kanzleramt, ist auch eine Folge der Abwrackprämienidee. Damals hat sie das erste Mal im Wirtschaftsministerium angerufen, weil sie unsicher war, ob der Begriff Abwrackprämie nicht geschützt ist. Seither ist sie mit verschiedenen Ebenen des Hauses in Kontakt. Mittlerweile ist der Gang zu politischen Vertretern ihr Job. Linnhoff leitet den Verband der Unabhängigen Reisebüros (VUSR), der rund 4000 Reisebüros vertritt. In dieser Funktion fordert sie, dass die Reisebranche sich erneuern muss: mehr Professionalisierung, weniger Kostendruck, bessere Bedingungen für den stationären Vertrieb. Und sie ist mitverantwortlich dafür, dass die Branche in der Corona-Krise eine Aufmerksamkeit bekommen hat, die zuvor kaum denkbar war.

Darüber, wie Marija Linnhoff zu ihrer heutigen Aufgabe gekommen ist, gibt es im Grunde drei Erzählungen. Die kurze Fassung, mit Fakten und Zahlen, lautet: Die ehrgeizige Tochter eines serbischen Kroaten hat früh in der Branche angefangen, 2005 ein Holiday-Land-Reisebüro übernommen, im Franchise-System von Thomas Cook. 2016 hat sie gleichermaßen Aufmerksamkeit wie Ärger für eine frühzeitige Prognose zur Pleite von Thomas Cook bekommen, im gleichen Jahr den VUSR mitgegründet, 2017 ihr Reisebüro zugemacht, seit 2020 leitet sie hauptamtlich den Verband.

Und dann gibt es da zwei lange Varianten, in denen viel Hinterzimmergeschacher vorkommt. Und in der sich je nach Erzähler eine einzelne Mutige aufgemacht hat, eine verkrustete Branche aufzurütteln, indem sie das Gebaren großer Konzerne infrage stellt. Eine, die mit der Rolle der Außenseiterin kokettiert. "Wenn Sie sich wehren in dieser Branche, werden Sie mundtot gemacht", sagt sie etwa, oder: "Ich war ja immer die Persona non grata, mit mir redete man nicht." Oder, das ist die andere Lesart, hier hat eine Verrückte mit Profilneurose laut für persönliche Anliegen gekämpft und es geschafft, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen, recht benennen kann sie keiner. Klar ist nur: Für Veränderung braucht es gelegentlich streitbare Menschen.

Ihre Umgangsformen gefielen nicht jedem - sie schimpft und droht

Beides, die euphorische wie die entsetzte Sicht auf Linnhoff, dürfte vor allem mit dem zu tun haben, das zugleich Linnhoffs größte Stärke und Schwäche ist: In der milden, konstruktiven Form bedeutet es, dass sie, wie sie selbst und andere sagen, Dinge "graderaus sagt, ohne rumzueiern". In der Extremform wird es zu dem, was sie, politisch eher halbkorrekt, "Fäkaltourette" nennt und was Menschen, die mit ihr beruflich zu tun haben, als "nicht immer mittelenglische Umgangsformen" bezeichnen: Sie wird ausfällig. Wie sich das angehört hat, wird an diesem Abend immer deutlich, wenn Linnhoff Szenen nacherzählt, in denen sie mit Branchengrößen aneinandergeraten ist. Dann fallen Schimpfwörter, so explizit, dass sie nicht hier abgedruckt werden können, und Drohungen, so drastisch, dass man kurz froh ist, dass es im Biergarten sehr laut ist.

Nun erscheint es logisch, dass laute, klare Worte schneller Gehör finden. Linnhoff hat die Lage der Reisebüros schon in den Talkshows von Maybrit Illner und Markus Lanz erläutert. Aber dass sie trotz oder wegen ihrer Wortwahl mittlerweile zum parlamentarischen Frühstück lädt und Fachpolitiker berät, liegt auch an ihrer Expertise. 2016 hat sie das erste Mal eine Pleite von Thomas Cook prophezeit, früh den schlechten Zustand von Air Berlin benannt. Seitdem nennt sie so mancher das "Orakel von Iserlohn". Bis heute gräbt sie sich tief ein in die Bilanzen vieler Unternehmen, fragt die Kreditwürdigkeit großer Konzerne auf eigene Faust ab und kann Paragrafen des Reiserechts auswendig. "Hätte ich gewusst, dass Politik so viel Spaß macht, hätte ich das schon viel früher gemacht", sagt sie. "Das, wofür mich meine Eltern verflucht haben, dieses viele Reden ohne Punkt und Komma, das ist dafür gerade richtig."

Und tatsächlich hat sie vor allem in den vergangenen Monaten viel erreicht: Dass Tausende Touristiker in Berlin demonstriert haben, dass die Reisebüros nicht nur Fixkosten erstattet, sondern Überbrückungshilfen bekommen, dass unzählige Selbständige als kleine, aber wichtige Unternehmen gesehen wurden, ist auch der Westfälin zuzuschreiben. Und so ist Linnhoff für manche Reisebürobesitzerin am anderen Ende der Republik eine "Heldin". Sogar der "Travel Industry Club" hat sie kürzlich ausgezeichnet, und im politischen Berlin fallen gute Worte: "zäh" sei sie, "umtriebig", sie habe einen "hohen Nervfaktor und einen hohen Umsetzungsfaktor". Aber eben auch: "Sie lässt sich halt nicht domestizieren."

Genau das dürfte der Grund sein, warum sich mit Lob trotzdem niemand zitieren lassen möchte. Es grollen mindestens so viele Menschen, wie ihr huldigen. Unter einem Text im Fachmagazin fvw aus dem Jahr 2012, der ihr vorwirft, durch Unkenrufe zu Thomas Cook die Branche zu beschädigen, schreiben Nutzer: "Sie haben sich selber ins Abseits gestellt und bleiben hoffentlich zukünftig auch dort!" und bescheinigen ihr "naiv-dummes Verhalten". Dass der Text bis heute einer der meistkommentierten der Website ist, zeigt, welche Emotionen diese Frau auf sich vereint.

"Reisen war nichts Besonderes mehr"

Das wiederum dürfte nicht nur an Linnhoff liegen, sondern an Themen, die die ganze Branche umtreiben. Die stand schon vor Corona vor Herausforderungen, darunter nicht weniger als Digitalisierung und Klimawandel. Aber eben auch vor Strukturproblemen. Über die Jahre ist die Zahl der Reisenden permanent gestiegen und der Anteil börsennotierter Unternehmen. Der Markt wuchs, alles wurde schneller, weiter, billiger. "Reisen", sagt Linnhoff, "war nichts Besonderes mehr." Seitdem, sagt sie, "geht es immer um noch mehr Geld und noch mehr Geld, nicht mehr um Zufriedenheit". Den Druck nach innen, auf Dienstleister, Zwischenhändler hat das erhöht. Linnhoff greift das immer wieder auf, macht aber auch interne Debatten, etwa um die Absicherung von Kundengeldern, öffentlich. Dass das, laut und griffig formuliert, in einer Branche, die traditionell kleinteilig ist, gut verfängt, ist wenig verwunderlich. "Sie stößt in ein Vakuum in der Interessenvertretung", sagt ein Berliner Politiker.

Die Frage ist, wie lange dieses Vakuum hält. Geht es nach Linnhoff, bleibt sie in der Politik. Mit der Zeit, betont sie stolz, ist sie besser geworden - manchmal, wenn sie Termine hat, ist jemand dabei, der ihr Zeichen gibt, wenn sie zu ungehalten wird. Aufregen kann sie sich immer noch trefflich, aber ausfällig wird sie nur noch in Ausnahmen. Sie weiß jetzt, dass nicht jeder, der anderer Meinung ist, wenn es beispielsweise um Grundsatzfragen wie eine Richtlinie zu Pauschalreisen geht, gleich gegen sie ist. "Ich musste auch lernen, dass ein Job nur ein Job ist und nicht jeder die Wahl hat." Eines ist sicher: Solange die derzeitige Krise anhält, wird Linnhoff weiter viel zu tun haben. Und wenn das nicht mehr der Fall ist, fällt ihr sicher wieder etwas ein. Damals, 2009, hat sie rund 300 Koffer bekommen. Die 50 schönsten hat sie mit Überraschungen gefüllt, Hotelaufenthalten und anderen kleinen Reisen, und versteigert.

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