Mittelschicht:Das Allgemeinwohl ist in akuter Gefahr

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Die deutsche Mittelschicht gerät unter Druck: Jobs fallen weg, Kosten steigen. Das ist gefährlich. Die Politik muss jetzt handeln, um die Mitte zu erhalten.

Kommentar von Max Hägler

Nichts ist in Deutschland so gut beleumundet wie die Mitte. Ein ganz normaler Job, der einem eine ordentliche Wohnung oder sogar ein Reihenhaus ermöglicht, ein normales Auto, dazu ein, zwei Urlaube pro Jahr. Mehr kann es sein, muss es aber nicht. Das unauffällige, sichere Leben in der Mittelschicht genügt vielen. Ungefähr zwei Drittel sind noch Teil dieser Klasse, auf der in Deutschland auch eine erfreulich rege Zivilgesellschaft gründet. Die Mitte ist das Fundament der Gesellschaft. Doch diese Stabilität, auf der so viel Gutes gründet für die Menschen selbst wie für das Staatswesen, wird zunehmend zu einem gefährlichen Trugbild. Tatsächlich gerät die Mittelschicht kleiner, in beinahe allen entwickelten Ländern, auch in Deutschland. Das Fundament rutscht also weg.

Zu dem Schluss kommen nicht nur provokante Wirtschaftswissenschaftler wie Thomas Piketty oder Abgeordnete der Linken. Es sind die nüchternen Analysten der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die das nun detailliert gemessen und beschrieben haben.

Gleich von zwei Seiten kommt die Mehrheit der Mittelschicht, also die Mehrheit der Deutschen unter Druck: Die Alltagskosten etwa fürs Wohnen und für Bildung nehmen zu, stärker als die Einkommen wachsen. Und zugleich werden immer mehr Jobs wegrationalisiert. Ein Sechstel aller Facharbeiterstellen ist in akuter Gefahr, der Automatisierung zum Opfer zu fallen, also den Robotern und Computern. Und wer noch eine neue Stelle bekommt, der muss oft mit befristeten Verträgen zurecht kommen. Auch deswegen klappt das Hochhangeln in die Mitte, die sogenannte Durchlässigkeit durch soziale Schichten, nicht so wie versprochen.

OECD-Studie
:Wie man der Mittelschicht helfen könnte

Den Menschen mit mittlerem Einkommen geht es schlechter als früher. Viele sind überschuldet, die hohen Mieten treffen diese Gruppe besonders stark. Die OECD sieht den Staat in der Pflicht.

Von Alexander Hagelüken

Es gilt damit festzustellen, dass eine gängige Theorie nicht mehr gilt, die bislang beinahe einem Gesellschaftsvertrag gleichkam: Ökonomisches Wachstum vergrößert stets die Gruppe derjenigen, die zur Mittelschicht hinzugerechnet werden können, also die Stabilität eines Landes. Bildhaft gesprochen hieß es bislang oft: Die Sozialstruktur wird mit zunehmendem Bruttoinlandsprodukt von einer Pyramide zu einer Raute. Das stimmt so offensichtlich nicht mehr. Quasi amtlich bestätigt ist indes: Das Allgemeinwohl ist in akuter Gefahr. Die Demonstrationen gegen Spriterhöhungen (Frankreich) oder hohe Mieten (Deutschland) und Stellenstreichungen (Volkswagen) bringen die Bilder zum herausfordernden Befund.

Die Antworten können und müssen Politiker geben und zwar in allen Ebenen. Spätestens jetzt zeigt sich, wie nötig die große Debatte um die Einhegung von Mieten und neue Wohnmodelle ist. Beim Wohnen und Leben müssen die Menschen an erster Stelle stehen, vor den Investoren. Der Staat und die Kommunen haben hier vieles in der Hand; sie geben den Rahmen vor. Vielen Stadträten und Abgeordneten fehlte bislang beim Bebauungsplan oder der Gesetzesänderung der Mut, gegen die Lobbyisten der Investoren zu stimmen. Nun können sie sich bei sozialverträglichen Beschlüssen auf die OECD berufen. Scharfe Kappungsgrenzen, öffentlicher Wohnungsbau, Genossenschaften sind die passenden Ansatzpunkte.

Die Steuersysteme müssen endlich wirklich gerecht gestaltet werden

Bei der Frage der Jobs wird ebenfalls bereits diskutiert: Die Technologisierung kann man nicht aufhalten, also muss in Schulen und Unis investiert werden, damit mehr Menschen komplizierte Dinge entwickeln und bedienen können. Das ist richtig - aber das wird nicht genügen. Die OECD geht davon aus, dass absehbar auch jeder zehnte Hightech-Arbeitsplatz wegen eben des ganzen Hightechs wegrationalisiert wird. Es gilt nun, schnell die Realität anzuerkennen: Von all der Automatisierung, der Industrie 4.0, profitieren im Grunde allein die Konzerne, deren Manager auch kaum ausscheren können angesichts eines weltweiten Wettlaufs um Effizienz. Manches davon bringt den Menschen Komfort und Unterhaltung. Aber vor allem kostet es Jobs und konzentriert die Gewinne in den Händen weniger.

Insofern ist richtig und wichtig, was die Wirtschaftswissenschaftler der OECD ins Feld führen: Die Steuersysteme müssen endlich wirklich gerecht gestaltet werden. Die sowieso stets eigenartig anmutende Besteuerung von ganz normaler Arbeit muss zurückgeschraubt werden, stattdessen gilt es, Kapitalerträge höher zu besteuern - was auch die Digitalisierungsprofiteure beträfe - wie auch die Steuerlast für sehr hohe Einkommen anzuheben.

Das ist alles fürchterlich radikal, sozialistisch und verschreckt Deutschlands Mitte? Auf den ersten Blick vielleicht, auf den zweiten ist es die einzige Möglichkeit, sie zu erhalten.

© SZ vom 12.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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