Mittelschicht in Deutschland:Und was wird aus uns?

Unten ist nichts mehr zu holen, oben sind es zu wenige. Also müssen wir ran. Ein Hilferuf aus der Mitte der Gesellschaft, an Angela Merkel und an alle anderen, die in diesem Land für Reformen zuständig sind.

Marc Beise

Angst ist ein schlechter Ratgeber, Zorn auch. Ich möchte keine Angst haben und auch nicht zornig sein. Ich möchte mit Zuversicht nach vorne blicken. Ich möchte aufbauen, nicht verzagen. Ich möchte die Zukunft gestalten. Aber etwas läuft falsch in diesem Land, und jemand wie ich steckt mitten drin.

Mittelschicht in Deutschland: 180 Milliarden Euro für Familienleistungen - wo kommen die an? Nicht bei uns.

180 Milliarden Euro für Familienleistungen - wo kommen die an? Nicht bei uns.

(Foto: Foto:)

Viele Pläne zirkulieren, viel Reformgerede, und es wird in dem Jahr bis zu den Bundestagswahlen 2009 nicht besser werden. Überall packen sie Versprechen aus: SPD, Union, FDP, von den Bauernfängern der Linken ganz zu schweigen, für die der Strom aus der Steckdose kommt und das Geld von den Bonzen. Für alles und jeden in dieser Gesellschaft gibt es: Programme. Modelle. Verheißungen. Nur nicht für mich.

Allen wird gegeben - nur uns nicht

Die Armen sollen ein paar Euro weniger im Monat ausgeben müssen, sagt die SPD. Das wäre schön, aber es wird nicht wirklich helfen.

Die Reichen sollen reich bleiben dürfen, sagt die FDP. Sonst gehen sie ins Ausland.

Den Alten soll ihre Rente sicher sein, das wollen alle. Es wird nur bald kaum noch einer da sein, um sie zu bezahlen.

Die Kranken sollen versorgt werden, am besten zum Nulltarif; aber es werden immer mehr, und sie leben immer länger.

Die Kinder sollen schlanker werden; selbst da will die Regierung helfen mit Rat und Tat, man fasst es nicht!

Die Umwelt muss gerettet werden; dafür gibt die Kanzlerin Milliarden. Dumm, dass das Ausland nicht auch so spendabel ist.

Allen soll gegeben werden, wenigstens ein bisschen. Allen - nur nicht mir. Oder, wenn ich das dann mal klarstellen darf: nur nicht uns. Denn wir sind viele. Und wir nennen uns: die Mittelschicht.

Die Sache ist einfach: Was anderen gegeben wird, fehlt mir. Es fehlen Geld und Ideen, es fehlt die Zuwendung. Ich vermisse mich in den Talkshows am Abend, und morgens vermisse ich mich in der "Presseschau". Auch in der "Tagesschau" ist von allen und jedem die Rede, nur nicht von mir. In der Mitte ist es am schönsten, sagt man. Aber das stimmt nicht mehr. In dieser Gesellschaft wird Politik an die Ränder gedacht. Und uns, mittendrin, kocht der Staat aus.

Kein böser Wille, sondern die Unfähigkeit zur Umkehr

Dahinter steckt kein böser Wille der Regierenden - ja, wenn es so einfach wäre -, sondern die Unfähigkeit zur Umkehr. Die nächste Wahl wird keinen Wandel bringen, ob mit Merkel, Beck oder Steinmeier, und erst recht nicht mit Lafontaine. Es ist wie mit dem Frosch im Kochtopf: Langsam erwärmt sich das Wasser, und wenn es kocht, ist der Frosch tot. Wir, die Mittelschicht, sind allerdings schon krebsrot. Und steigen doch nicht aus. Wohin auch?

Ein Wort zur Begrifflichkeit. Wir sind die Mitte in Deutschland, das schon, aber nicht unbedingt der vielzitierte "Mittelstand". Den immerhin hat die Politik als Thema erkannt, er ist fester Bestandteil jeder Rede. Der Mittelstand hat andere Sorgen als wir. Er leidet unter der Gewerbe- oder der Abgeltungssteuer, er kämpft um das Absetzen von Betriebsausgaben, und er muss dann in die Schweiz umziehen, um das eigene Unternehmen vor der Erbschaftsteuer zu retten.

Mittelstand und Mittelschicht

Der Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, und endlich will der Staat ihm unter die Arme greifen, nachdem er sich zuvor vor allem um die großen Konzerne gesorgt hat. Die haben sich davon allerdings nicht beeinflussen lassen und strukturieren trotzdem munter um. Meistens "setzen" die großen Konzerne dabei Mitarbeiter "frei", oder sie "bauen Arbeitsplätze ab"; wenn's gut geht, machen sie das "sozialverträglich". Der Mittelstand ist vergleichsweise näher an den Menschen; er kämpft um jeden Arbeitsplatz. Ein solcher Mittelständler ist mindestens selbständig und hat 30 Mitarbeiter oder 3000 und fünf Millionen Umsatz oder 500 Millionen. Alles sehr ehrenwert - aber das sind nicht wir.

Der Mittelstand ist eine feste Größe. Je größer, desto fester. Wir dagegen, die Mittelschicht, sind allein, mit unseren Freunden, unserer Familie. Wir sind die kleinste gesellschaftliche Einheit, das macht uns so wichtig, aber auch sehr, sehr verletzlich.

Auf der nächsten Seite: Im Herzen der Gesellschaft bröckelt es. Wir können uns und unseren Kindern nichts mehr aufbauen. Der Staat saugt uns den Lebensmut aus.

Und was wird aus uns?

Meistens sind wir fremdbestimmt, als Angestellte, Facharbeiter, Handwerker, Kleinunternehmer, Beamte. Arm sind wir nicht im üblichen Sinn. Für viele andere wird es ja im Wortsinn immer härter in einem ärmer werdenden Deutschland: für die Hartz-IV-Empfänger, für Alleinerziehende, für kinderreiche Familien. Uns geht es da, wir wissen das und sind dankbar, vergleichsweise gut. Wir haben Jobs, arbeiten viel, verdienen aber auch nicht schlecht. Wir wohnen in München. Wir haben ein geräumiges Auto. Wir fahren in den Urlaub, wenn auch nicht in den Club Méditerranée. Wir können uns einiges leisten, der eine oder andere von uns sogar eine Scheidung inklusive Versorgung der alten und der neuen Kinder.

Kinder und Alte geraten ins Abseits

Nur: Sparen fürs Alter, nachhaltig vorsorgen, uns und den Kindern etwas aufbauen, einst normale und die Gesellschaft stabilisierende Tugenden, das können wir - die Helden der schwarzen Null am Monatsende - nicht mehr.

Der Staat kann es übrigens auch nicht, welche Parallele! Im Weltmaßstab ist die Bundesrepublik Deutschland sehr reich, bei uns muss niemand verhungern. Noch brummen die Maschinen, die Geschäfte sind voll und die Straßen gut. Doch im Herzen dieser Gesellschaft bröckelt es, für Bildung und Soziales wird viel zu wenig ausgegeben trotz großer Sprüche, es geraten Kinder und Alte ins Abseits. Die reiche Bundesrepublik lebt auf Pump. Der Staat hat über zig Jahre - zum Beispiel in den eigentlich brummenden Jahren vor der teuren deutschen Einheit - Schulden angehäuft, die ihn heute strangulieren. Es sind satte 1,5 Billionen Euro! Politiker, die so etwas zu verantworten haben, sollte man als das bezeichnen, was sie sind: als Versager im Dienste an den Menschen.

Wir würden auch gerne Schulden machen

Jedes Jahr müssen deshalb etliche Milliarden Euro allein an Zinsen aufgebracht werden, und die Politiker feiern sich, wenn es in guten Zeiten einige Milliarden Neuschulden weniger sind. Was für ein armseliges Spiel! Ein Spiel, da schließt sich der Kreis, auf Kosten der Mitte. Unten kann man nichts mehr holen. Und ganz oben sind zu wenige, als dass deren Obolus, und sei er noch so hoch, mengenmäßig ins Gewicht fiele. Also müssen wieder wir ran: an der Zapfsäule, im Supermarkt, und vor allem gehen sie an unseren Lohn, noch bevor wir unser Geld überhaupt gesehen haben.

Wir würden auch gerne Schulden machen, und immer mehr von uns tun das auch. Was reinkommt, wird gleich wieder rausgebuttert, notfalls ein bisschen mehr. Es ist ein schleichender Prozess, wie beim Staat. Erst wird das Girokonto einmal überzogen, dann etwas öfter, dann noch etwas öfter. Der Staat wird so schnell nicht pleite gehen, weil das die große, weltumspannende Katastrophe wäre. Aber unsere kleine Katastrophe ist schon da, sie ist Alltag in der Mitte in Deutschland. So wie der Staat uns monatlich das Geld absaugt, ehe es vom Arbeitgeber bei uns ankommt, so saugt er uns den Lebensmut aus.

Belastungsorgie, sensationell und unauffällig

Es ist ein allmähliches Garkochen, das hier stattfindet und das man sehr schön anhand der Steuern erklären kann. Es war ja kein Mangel an Steuerreformen in den vergangenen Jahren, weiß Gott nicht. Was aber bei den Sätzen besser wurde, hat man flugs anderswo gegengerechnet, bei der Streichung von Steuervergünstigungen, der Kürzung von Sparerfreibetrag und der Pendlerpauschale zum Beispiel. Die Mehrwertsteuer wurde erhöht, die Sozialversicherungsbeiträge wurden angehoben, die Leistungen gekürzt oder beides; eine Belastungsorgie ist das, sensationell unauffällig durchgezogen. Eine Frechheit erst recht, dass der Staat seine Steuertarife und Freibeträge nicht automatisch an die Inflation, an die Geldentwertung, anpasst; Fachleute nennen das "kalte Progression".

Auf der nächsten Seite: Kinder sind die beste Gewähr dafür, dass man in dieser Gesellschaft nichts mehr reißen kann.

Und was wird aus uns?

Bei Lichte besehen wurden vor allem die Geringverdiener entlastet sowie die Gutverdiener und die Kapitalbesitzer. Der "normale" Lohnempfänger aber zahlt immer weiter drauf. Erst recht, wenn man alle Belastungen von Abgaben bis Gebühren dazurechnet.

180 Milliarden Euro für Familienleistungen - wo kommen die an?

Und ganz besonders zahlt der normale Lohnempfänger drauf, wenn er Kinder hat, denn Kinder sind immer noch die beste Gewähr dafür, dass man in dieser Gesellschaft nichts mehr reißen kann. Ach, Kinder . . . selten war so viel die Rede von ihnen wie heute. Parteien überbieten sich mit familienpolitischen Versprechungen. Aber auch da: Vorsicht Falle! Es wird bereits wieder über Einkommensgrenzen und Staffelungen geredet statt davon, all die Erziehungsleistungen, die Familien bisher zum Wohle der Gesellschaft unentgeltlich beisteuern, leistungsgerecht zu honorieren. 180 Milliarden Euro werden jedes Jahr in Deutschland für Familienleistungen ausgegeben? Ich habe absolut keine Ahnung, wo die ankommen.

Es gab einmal eine Zeit, da war die Mitte dem Staat etwas wert, sie war das stabilisierende Scharnier in der Gesellschaft. Einerseits waren da die Ärmeren, die aufsteigen konnten in die Mitte. Nicht alle schafften das, aber viele. Es war eine Zeit, da man statt von der ewigen Schimäre der "sozialen Gerechtigkeit" lieber von der "Chancengerechtigkeit" sprach. Es können nicht alle reich werden, aber alle sollen die Chance dazu haben. Andererseits gab es die Wohlhabenden, die aus der Mitte nach oben entkommen waren; ein wohldotierter Job oder Papis Vermögen machten es möglich. Die oben gibt es noch immer, sie werden immer reicher; aber es sind wenige. Ein paar Prozent von 82 Millionen, eher weniger.

Vorbereitungen für ein Leben in einem anderen Land

Die Mitte dagegen löst sich auf. Wer nach oben entkommt, ist bald weit weg: Millionengehälter für Spitzenmanager sind nur die Spitze und werden gefolgt von mehrhunderttausendfachen Bezügen im leicht gehobenen Management. Immer mehr Menschen aber stürzen nach unten ab. In der Mitte wird es einsam.

Das macht keinen Spaß mehr. Wenn wir jung wären, würden wir auswandern. Tausende tun es, sie gehen in die Schweiz, nach Skandinavien, nach Kanada, in Länder, wo die Mitte noch lebt. Freunde mit gut ausgebildeten und erwachsenen Kindern schauen, dass sie die so schnell wie möglich an eine ausländische Uni bekommen, nicht für ein Auslandsjahr, sondern als Vorbereitung für ein Leben in einem anderen Land.

Wenn wir Zurückgebliebenen aber den Mut vollends verlieren, ist das nicht gut, für niemanden. Die Mitte hat dieses Land stabilisiert. Der erste Mercedes, der erste Auslandsurlaub, das eigene Heim. Die Karriere war mal demokratiestiftend in einem Staat, der lange sein inneres Gleichgewicht gesucht, der Kaiserreich und Diktatur ausprobiert und zwei Weltkriege vom Zaum gebrochen hat.

Auf der nächsten Seite: Der Professor aus Heidelberg hatte recht.

Und was wird aus uns?

Die Mitte war danach die Stütze der Gesellschaft. Unsere Vorgänger in den fünfziger und sechziger Jahren waren nicht rassistisch, nicht überheblich. Es waren engagierte, gute Bürger der Gesellschaft. Heute dagegen fehlt uns die Perspektive, um wohltuend langmütig zu sein. Wer den Hartz-IV-Empfängern nicht gibt, heißt es, befördert radikale Parteien.

Ist es bitte nicht ebenso verhängnisvoll, uns, die Mitte, weichzukochen?

Problem erkannt, sagen Politiker und werfen routiniert die Wortschwallmaschine an. Die Union will die Steuern senken, bravo! Wetten, dass sie sogleich anderswo wieder erhöht werden? Die SPD will die Abgaben senken, noch besser! Aber sie will die Höhe der Staatseinnahmen nicht verändern, (wenigstens ist man ehrlich). Was also bei den Beiträgen für Rente, Gesundheit und Pflege weggeht, wird bei den Steuern wieder draufgelegt. Steuern aber zahlt man bei niedrigem Einkommen gar nicht und bei hohem Einkommen aus der Portokasse.

Es hilft nur noch der große Wurf

Kassiert wird bei uns, in der Mitte, und zwar von Jahr zu Jahr mehr. Mit gut 50.000 Euro Einkommen im Jahr ist man heute Spitzenverdiener und zahlt den höchsten Steuersatz. Kann das sein, wenn schon manches Anfangsgehalt höher liegt und im mittleren Management mehrere Hunderttausend im Jahr verdient werden? Mit ein bisschen Umsteuern ist hier nichts mehr zu retten. Es hilft nur noch der große Wurf.

Liebe Politiker, gebt uns ein Gesundheitssystem, das wirklich funktioniert. Sorgt dafür, dass jeder arbeitet, der arbeiten kann - und lasst ihm dann das Geld, das er mehr verdient als zuvor als Arbeitsloser. Bringt verdammt nochmal endlich das deutsche Steuerrecht in Ordnung. Lasst uns einfach die Hälfte unseres Einkommens - auch wenn wir das Pech haben, nicht verheiratet zu sein.

Der Professor aus Heidelberg hatte recht

Es gab einmal einen Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe, der genau diesen Gedanken in seine Urteile geschrieben hat. Das war juristisch die hohe Kunst der Auslegung, und natürlich rümpften werte Fachleute die Nase: viel zu weit hergeholt, Herr Kollege. Dem Richter Paul Kirchhof reichten seine zwölf Jahre am obersten Gericht nicht, nachhaltig Spuren zu hinterlassen, allein das ist schon ein bedenkliches Zeichen. Als der Steuerreformer sich dann in die Politik wagte, war seine Hinrichtung schnell beschlossene Sache, und aus dem Hoffnungsträger wurde dann der vielgeschmähte "Professor aus Heidelberg". Im Grunde hatte der Mann nur versucht, das große Ganze nicht nur zu denken, sondern es auch zu tun.

So viel Kreativität, und noch viel mehr, das muss erlaubt sein, wenn man wirklich etwas verändern will. Lasst uns dabei, das wäre in diesen Zeiten etwas Neues, beim Fundament der Bürgergesellschaft anfangen: in ihrer Mitte.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: