Gesellschaft:Sorgen um die Mittelschicht

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Deutsche rutschen wirtschaftlich leichter ab. Gerade junge Menschen sind häufig von der Gesellschaftsschicht ausgeschlossen, in der alle sein wollen.

Von Alexander Hagelüken

Zur Mittelschicht zu gehören, das ist ein deutsches Sehnsuchtsziel. Damit verbinden sich Träume wie stetig mehr Gehalt, schöne Urlaubsreisen und die eigene Immobilie. Drei Viertel der Deutschen rechnen sich selbst zu den mittleren Einkommen. Die Realität sieht anders aus: Die Mitte schrumpft, der Aufstieg wird schwieriger - und gerade junge Deutsche sind oft ausgeschlossen. Das zeigt eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Bertelsmann-Stiftung, die Fragen für die neue Regierung aufwirft.

Die Forscher haben die Republik durchleuchtet und stellen einige Diagnosen. Das fängt schon mit der Größe der so begehrten Gesellschaftsschicht an. Drei Viertel der Deutschen gehören zur Mitte? Von wegen. Die Mittelschicht schrumpft - von 70 Prozent der Bevölkerung Mitte der Neunzigerjahre auf nur noch 64 Prozent im Jahr 2018. Der Rückgang ereignete sich zwar vor allem in den Nullerjahren, als es viele Arbeitslose gab, die Firmen aus Tariflöhnen flüchteten und der Sozialstaat abgebaut wurde. Aber das ist kein Anlass zur Hoffnung. Denn in den zehn Jahren bis zur Corona-Krise boomte die Wirtschaft. Doch die Mitte nahm trotzdem nicht wieder zu.

"Die Mitte schrumpft überall in den Industriestaaten", erklärt der Ökonom Branko Milanović in Büchern wie "Die ungleiche Welt". Globalisierung und moderne Technologie setzen Fabrik- und Bürotätigkeiten unter Druck. Die Löhne stagnieren. Oder die Leute müssen gar auf schlecht bezahlte Jobs von Sicherheitsgewerbe bis Supermarkt umsteigen. Von 2000 bis 2014 nahm das verfügbare mittlere Einkommen in Deutschland und damit der Lebensstandard nicht zu - früher undenkbar. Der Anteil der Mitteljobs in Industriefirmen sinkt, zeigt die Studie von Bertelsmann und OECD. Sie definiert die Mitte so, dass Paare mit zwei Kindern dazugehören, wenn ihr verfügbarer Monatsverdienst bei 3000 bis 8000 Euro liegt.

Nationen mit starker Mitte sind zufriedener - und haben weniger Kriminalität

Gerade Deutschland war immer so stolz auf seine Mittelklasse, die größer war als in anderen Industrieländern. Selbst ein Millionär wie der CDU-Politiker Friedrich Merz rechnet sich dazu, obwohl er klar zur Oberschicht zählt. Die Mitte hält den Staat am Laufen, weil sie mehr an Steuern und Beiträgen einzahlt als sie an Sozialleistungen herausbekommt. Forscher haben ermittelt, dass Gesellschaften mit starker Mitte eine höhere Zufriedenheit mit dem Leben sowie gesündere Bewohner aufweisen - und weniger Verbrechen.

Doch gerade Jüngeren ist die begehrte Gesellschaftsschicht zunehmend versperrt. Der Anteil 18- bis 29-Jähriger mit mittlerem Einkommen sank um mehr als zehn Prozent. Es ist auch eine Frage des Geburtsjahres. Bei den Babyboomern, die von 1955 bis 1964 auf die Welt kamen, schafften es sieben von zehn nach dem Berufsstart in die Mittelschicht. Bei den Millennials, also den Jahrgängen 1983 bis 1996, sind es nur sechs von zehn. Dabei spielt Bildung eine zentrale Rolle. Wer eine Ausbildung abschließt, aber kein Studium, dem bleibt die Mitte öfter versagt als früher. Ohne Ausbildung und Abitur ist man sogar meist draußen.

Es ist nicht nur schwerer geworden, in die begehrte Gesellschaftsschicht zu kommen. Gerade jene in der unteren Mittelschicht rutschen leichter daraus ab - im typischen Berufsalter jeder Fünfte.

Zuletzt gab es allerdings Forschungsergebnisse, die die Lage positiver zeichnen. So streicht das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) heraus, die Einkommen seien von 2014 bis zur Corona-Krise spürbar gewachsen. Eine große Mehrheit jener, die zur Mitte zählten, gehörte viele Jahre später weiter dazu. "Nachdem Abstieg und Schrumpfung der Mittelschicht ein häufiges Thema waren, hat sich die Lage in den späteren 2010er-Jahren entspannt", sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch.

Teilweise hängen solche Einschätzungen damit zusammen, dass die Mittelschicht unterschiedlich definiert wird. Bertelsmann-Stiftung und OECD, die Denkfabrik der Industriestaaten, intonieren ihre Erkenntnisse skeptisch. Höheres Risiko für den Abstieg - und fehlende Mobilität nach oben: "Wer in Deutschland einmal aus der Mittelschicht herausfällt, hat es heute deutlich schwerer, wieder aufzusteigen", erklärt Mitautorin Valentina Consiglio.

Was tun, um die Mitte zu stabilisieren - und wirtschaftliche Sicherheit und Zufriedenheit der Deutschen zu steigern? Das ist eine politische Frage mit Sprengstoff. Fachleute wie Branko Milanović halten den Abstieg der Mittelschicht für den zentralen Grund, warum Rechtspopulisten von AfD bis Trump in den vergangenen Jahren so viel Zulauf fanden. Damit richtet sich die Frage direkt an die Ampelkoalition in Deutschland: Was sollte sie für die Mittelschicht leisten?

Eine Ausbildungsgarantie wie in Österreich könnte helfen

Auf der Habenseite steht etwa, dass der Mindestlohn von zwölf Euro Einkommen erhöhen wird. Jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte, der in einem Mitte-Haushalt lebt, arbeitet zum Niedriglohn. In der unteren Einkommensgruppe ist der Anteil sogar viermal so hoch.

Die Forscher von OECD und Bertelsmann haben mehrere Vorschläge für die Regierung, wie sich die Mitte stärken lässt. Das fängt mit der Bildung an. Jeder siebte junge Bürger startet ohne Ausbildung oder Abitur in den Beruf. Die Zahl der Ausbildungsverträge schrumpft, wogegen eine Ausbildungsgarantie wie in Österreich helfen könnte - die Ampel nimmt sie sich vor.

Die Forscher glauben zudem, dass der absehbare Bedarf an Pflegekräften und Kinderbetreuern zu einem Motor für gute Mittelschichts-Jobs werden könnte. Dazu sei es aber nötig, diese Berufe besser zu bezahlen.

Und dann ist da noch, dass der Staat der Mitte ins Portemonnaie greift - und Arbeitseinkommen steuerlich stark belastet. Die Regierung könnte die Steuern senken und dafür lieber Kapitaleinkommen belasten und Ausnahmen bei der Erbschaftsteuer abschaffen, schlagen die Forscher vor. Bisher bleibt dies allerdings ein frommer Wunsch: Auf Steuersenkungen für die Mitte konnte sich die Ampel nicht einigen.

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