Es ist eine, ja: historische Wegmarke. An diesem Samstag steigt der Mindestlohn in Deutschland auf zwölf Euro die Stunde. Das bedeutet satte 15 Prozent mehr. So richtig wird die Dimension klar, wenn man weiß, dass Firmen Mitarbeitern vor einem Jahr nur 9,60 Euro zahlen mussten. Von da aus gesehen sind es jetzt 25 Prozent mehr. Millionen Arbeitnehmer und ihre Familien werden das als Wohltat empfinden, gerade wegen der Inflation. Aber könnte der Mindestlohnturbo die Preise nicht weiter hochtreiben - und massenhaft Jobs kosten?
Letztere Debatte begleitete den Mindestlohn schon, bevor er in Deutschland 2015 startete. Unter den großen Wirtschaftsnationen war die Bundesrepublik spät dran mit der gesetzlichen Lohnuntergrenze. Das des Sozialismus gewiss unverdächtige Großbritannien etwa führte sie 1999 ein. Als Antwort auf die überall im Westen geschwundene Macht von Beschäftigten und Gewerkschaften. Als Stoppschild für Firmen, die ihren Gewinn zulasten der Mitarbeiter maximieren.
Die Jobwarnungen waren falsch
Bevor Deutschland 16 Jahre später so weit war, warnten marktliberale Ökonomen vor einer Katastrophe. Ein Mindestlohn werde mehr als eine Million Jobs kosten, sagten sie voraus. Das erwies sich als falsch. Es gingen kaum Jobs verloren. Und wenn, dann entstanden dafür anderswo produktivere Stellen.
Arbeitsmarkt:Was bringt der neue Mindestlohn?
Von Samstag an gilt der Mindestlohn von zwölf Euro. Er soll Menschen mit niedrigen Einkommen helfen. Kritiker sehen ihn als Jobkiller und Inflationstreiber, Befürworter als Weg zu gerechteren Löhnen. Das sagen Betroffene und Fachleute.
Was die SPD-geführte Regierung jetzt tut, ist noch ein größerer Schritt als der Start 2015. Die damals eingesetzte Kommission hat den Mindestlohn sehr langsam erhöht. Die allgemeinen Löhne stiegen schneller, Menschen mit geringem Verdienst fielen zurück. Olaf Scholz versprach ihnen vor der Bundestagswahl mehr Respekt für ihre Arbeit. Mit der Erhöhung auf zwölf Euro ignoriert er dieses eine Mal die Kommission - mit durchschlagender Wirkung: Diesmal bekommen etwa acht Millionen Arbeitnehmer mehr Geld. Damit profitieren sogar doppelt so viele wie beim Start des Mindestlohns.
In Restaurants verdient jeder Zweite mehr
Überdurchschnittliche Gewinner sind Frauen und Teilzeitbeschäftigte. Branchen, zu denen Gastronomie, Sicherheitsdienste oder Zeitarbeit gehören, müssen jeden zweiten Arbeitnehmer besser bezahlen. Damit setzt der Kanzler ein eindrucksvolles Zeichen, dass körperlich fordernde Arbeit abends und am Wochenende, wenn die Masse der Bürger frei hat, in diesem Land etwas gelten soll.
Aber wird die Erhöhung nicht viele Jobs kosten, jetzt da die Wirtschaft durch die Energiekrise bald schrumpfen dürfte? Die marktliberalen Katastrophenszenarien sind diesmal nicht zu hören. Andere Ökonomen geben sich entspannt. Tatsächlich führte dank Kurzarbeit nicht mal die Corona-Krise 2020 zu Massenentlassungen, und damals brach die Wirtschaft zehn Mal so stark ein, wie es jetzt erwartet wird.
In vielen Branchen herrscht längst Personalmangel. Da halten die Unternehmen ihre Mitarbeiter lieber, auch wenn sie etwas teurer werden. Große Discounter und andere Dienstleister haben schon reagiert und entlohnen jene Stellen besser, die etwas höher eingestuft sind als der Mindestlohn. Ihre Leute sollen bloß nicht zur Konkurrenz wechseln, wenn die künftig mehr bezahlt.
Liberale Ökonomen haben statt der Jobverluste nun ein anderes Problem ausgemacht: Mehr Inflation. Der Ex-Wirtschaftsweise Bert Rürup warnte schon vor Monaten, zwölf Euro Mindestlohn beförderten "den Einstieg in eine Lohn-Preis-Spirale". Das erscheint übertrieben. Auf alle Arbeitnehmer gerechnet bedeutet der höhere Mindestlohn eine Lohnerhöhung von weniger als zwei Prozent. Außerdem machen Gehälter nur einen Teil der Gesamtkosten der Firmen aus. Deshalb ist damit zu rechnen, dass die Inflationswirkung im Nullkommabereich bleibt. Der höhere Mindestlohn dürfte eine Wohltat werden, deren Nebenwirkungen vernachlässigbar sind.