Süddeutsche Zeitung

Mindestlohn:Geschummelt, gestrichen, gemogelt

Lesezeit: 6 Min.

Von Thomas Öchsner, Berlin, und Hanna Maier

Für Michelle Leistert ist der Mindestlohn ein Stück Freiheit. Wann gibt es schon mal 26 Prozent mehr Lohn auf einen Schlag, einfach so? "Ich kann jetzt endlich mehr shoppen", sagt die Abiturientin. Noch vor gut einem Monat hat die 19-Jährige, die für das Unternehmen D+S in einem Callcenter auf der Insel Rügen arbeitet und mit der ganzen Republik telefoniert, 6,75 Euro brutto in der Stunde verdient. Seit Anfang des Jahres sind es 8,50 Euro, das sind bei einer 30-Stunden-Woche gute 200 Euro mehr im Monat.

Ihr Chef, Christian Fischer und sein Management, haben sich lange auf die neue gesetzliche Lohnuntergrenze vorbereitet - und sind beim Sparen noch erfinderischer geworden. Jede Abteilung hat nur noch einen Drucker statt zwei. Wartungskosten wurden verringert, manche Reinigungskosten auch. Sie haben es geschafft: Die 400 Mitarbeiter bei einem der größten Arbeitgeber auf der Insel erhalten den Mindestlohn, keiner wird wegen der steigenden Lohnkosten entlassen.

Es ist eine der größten Sozialreformen der Nachkriegsgeschichte. 3,7 Millionen Menschen sollen nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums von den 8,50 Euro profitieren. Aber nicht überall läuft es so vergleichsweise reibungslos ab wie in dem Callcenter auf Rügen.

Proteststurm

Während sich viele Arbeitnehmer über einen kräftigen Lohnaufschlag freuen, fegt ein Proteststurm durchs Land. Quer durch die Republik zetern die Arbeitgeber, weil sie Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit aufschreiben sollen, damit der Zoll den Mindestlohn besser kontrollieren kann. Überall tauchen neue Probleme auf, bei den Sportvereinen und Wohlfahrtsverbänden, Taxifahrern und Schaustellern, ja sogar in Wanderhütten im Pfälzer Wald, wo Mitglieder für ein paar Euro Aufwandsentschädigung Getränke ausgeben. Gleichzeitig wird geschummelt, gestrichen und gemogelt, was das Zeug hält: Wenn es darum geht, die Bezahlung der 8,50 Euro zu unterlaufen, zeigen manche Unternehmer einen teilweise skurrilen Einfallsreichtum.

Es ist wie bei jedem Sozialgesetz mit historischen Ausmaßen: Von Anfang an kann gar nicht alles rund laufen. Aber wie läuft es 38 Tage nach Einführung des Mindestlohns wirklich?

Was ist Arbeitszeit?

Eberhard Gienger war 1974 Weltmeister am Reck. Jetzt ist der frühere Spitzenturner sportpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und bekommt viel Post von den 90 000 Sportvereinen im Land. Dort war bis Ende des Jahres alles ganz einfach: Viele Fußballer und Athleten, Trainer, Betreuer oder Platzwarte, "haben eine Zuwendung auf unbürokratische Art und Weise erhalten", sagt Gienger. Etliche waren als Minijobber beschäftigt, mit einem für sie steuerfreien und für den Verein bezahlbaren Salär oberhalb der Übungsleiterpauschale von 200 Euro bis zur 450-Euro-Grenze. Ob Minijobber oder nicht - die Sportler galten und gelten rechtlich als Angestellte des Vereins. Doch damit haben sie nun Anspruch auf den Mindestlohn.

Was aber ist Arbeitszeit? Die Tasche packen? Duschen? Physiotherapie und Anreise? Oder nur das Training und der Wettkampf? "Wenn einer erfolgreich sein möchte, muss er trainieren", und dann werde mit den vielen Stunden die 450-Euro-Grenze schnell überschritten und der Sportler für den Verein unbezahlbar, sagt Gienger. Er hofft, dass bei den Gesprächen der Spitzenverbände des Sports mit dem Bundesarbeitsministerium bald eine Lösung gefunden wird.

Darauf warten auch die Wohlfahrtsverbände. Wer ehrenamtlich tätig ist, ist grundsätzlich vom Mindestlohn ausgeschlossen. Aber was ist mit denen, die eine kleine Aufwandsentschädigung bekommen, drei, vier Euro die Stunde, weil sie zum Beispiel Getränke ausschenken? Und was mit den jungen Leuten, die in Jugendwerkstätten auf eine Ausbildung vorbereitet werden? Oder psychisch Kranken, die in Integrationsbetrieben arbeiten und dort etwa Kleider sortieren oder Tonerkartuschen recyceln? Auch fragen sich die sozialen Einrichtungen, wie Bereitschaftsdienste etwa in Wohneinrichtungen für behinderte Menschen oder Wohngemeinschaften für hilfebedürftige Jugendliche zu bezahlen sind.

"Unscharfe Stellen"

"Es gibt unscharfe Stellen in dem Gesetz und Graubereiche, etwa bei den Mitarbeitern der Beschäftigungsinitiativen, zu denen schnell und dringend vom Ministeriumsseite Klarheit geschaffen werden muss", sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.

In einigen Bereichen fehlt es noch an Rechtssicherheit, auch bei den Beschäftigten aus dem Ausland, die sich kurze Zeit in Deutschland aufhalten. Ob der italienische Tellerwäscher auf einem Kreuzfahrtschiff Anspruch auf die 8,50 Euro hat, solange das Schiff im Hamburger Hafen liegt, oder der polnische Lkw-Fahrer auf der Durchreise nach Frankreich auf deutschen Autobahnen Mindestlohn bekommt, muss die EU klären. Die 8,50 Euro für Beschäftigte aus dem Ausland dürften ein Fall für die Gerichte werden.

Taxifahrer Ilmaz Özgun hat ein ganz anderes Problem. Als Angestellter einer Münchner Taxifirma bekommt er ebenfalls den Mindestlohn. Özgun ärgert aber, dass er damit mehr Abgaben und Steuern an den Staat abführen muss. Noch mehr stört ihn, dass er die Arbeitsstunden dokumentieren soll. "Wir haben schon genügend Ärger mit Autos, Verkehrsregeln und Fahrgästen. Jetzt soll ich auch noch alles aufschreiben", sagt er. Für ihn ist der Mindestlohn schlicht "verschriftlichte und damit offiziell gemachte Abzocke".

Arbeitgeber haben die Pflicht, für bestimmte Beschäftigte bis zu einer Verdienstgrenze von knapp 3000 Euro brutto im Monat Beginn, Ende und Dauer der Arbeit für jeden Tag zu notieren. Die Vorschrift ist jedoch nur für Arbeitnehmer in den neun Branchen bindend, die als besonders anfällig für Schwarzarbeit gelten. Dazu zählen etwa das Baugewerbe, die Hotel- und Gaststätten- und Reinigungsbranche oder die Fleischwirtschaft. Auch bei den Millionen Minijobbern, die nicht in Privathaushalten arbeiten, sind die Aufzeichnungspflichten vorgeschrieben. Diese wollen die Arbeitgeber und die Union am liebsten ganz oder teilweise abschaffen. Horst Seehofer spricht von einem "Irrsinn an Bürokratie", Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer von "überflüssiger Bürokratie in Reinkultur".

Ist der Mindestlohn also ein Bürokratiemonster? Tatsächlich schreibt das Arbeitszeitgesetz schon seit Jahren vor, dass Betriebe jede Überstunde eines Mitarbeiters notieren und die Unterlagen 24 Monate aufbewahren sollen. Bereits heute wird die Arbeitszeit in vielen Betrieben erfasst. Jeder Handwerker macht dies auf seiner Rechnung. Ein Problem haben deshalb jetzt vor allem diejenigen Arbeitgeber, die mit den gesetzlichen Auflagen allzu locker umgegangen sind oder die Beschäftigten einfach länger arbeiten ließen und sie dafür entweder schwarz oder gar nicht bezahlten. Das gilt besonders für die Gastronomie- und Hotelbranche.

Viele Hoteliers und Gastwirte befürchten nun, dass sie in ihren Räumen keine großen Feiern und Hochzeiten mehr abhalten können. Arbeitnehmer dürfen laut Arbeitszeitgesetz bis zu zehn Stunden an sechs Werktagen arbeiten. Nach Feierabend besteht Anspruch auf eine ununterbrochene Ruhezeit von elf Stunden - zumindest auf dem Papier. In der Praxis wurde nicht selten darüber hinweggesehen. Jetzt aber droht mit dem Mindestlohngesetz ein Bußgeld von bis zu 500 000 Euro, wenn die Lohnuntergrenze unterlaufen und die Arbeitszeiten nicht richtig dokumentiert sind.

Ein Hotelier rechnet vor: Wenn die Mitarbeiter bereits zwei Stunden vor Beginn der Festlichkeiten eindecken müssen und danach auch aufräumen sollen, dürften die Gäste nur sechs Stunden feiern. Das machten vermutlich viele nicht mit. "Lieber lasse ich meine Festsäle leer stehen, als einem Hochzeitspaar nach sechs Stunden feiern zu sagen, dass meine Crew wegen des Gesetzgebers nach Hause gehen muss", sagt er und fügt hinzu: "Diese Dokumentationspflicht tötet die deutsche Dienstleistung".

Für SPD-Vizefraktionschefin Carola Reimann wird dagegen nun klar, "wie mit der Arbeitszeit manipuliert wird". DGB-Chef Reiner Hoffmann sagt: "Wer Bleistifte und Kugelschreiber bestellen kann, der kann auch Arbeitszeiten erfassen." Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) verspricht: "Es reicht ein Blatt Papier, notfalls geht es mit der Hand." Sollte der Arbeitgeber es wirklich nicht schaffen, könne er auch den Arbeitnehmer beauftragen, die Arbeitszeit aufzuschreiben. Das sei in vielen Branchen längst Praxis.

Gutscheine statt Lohnerhöhungen

Ist das Monster also nur ein Monsterchen? Richtig schwierig wird es auf jeden Fall für Analphabeten. Es soll nicht wenige Schaustellerfamilien geben, die seit mehreren Generationen mit ihren Schaubuden und Karussells von Kirmes zu Kirmes ziehen, und nun wegen der Schreibarbeit für den Mindestlohn ein echtes Problem haben: Sie haben in der Schule nicht lesen und schreiben gelernt.

In Wirklichkeit dürfte es im Kampf gegen das viel beschworene "Bürokratiemonster" Mindestlohn um viel mehr gehen: Die Wirtschaftsverbände und Teile der Union sehen hier bei der Arbeitsministerin, die die Rente ab 63 und die 8,50 Euro gegen alle Widerstände durchgesetzt hat, eine ideale Angriffsfläche. Eine schwache Nahles wird es aber schwerer haben, die geplanten Eingriffe bei der Leiharbeit und den Werkverträgen durchzusetzen.

Nahles lässt sich von den Angriffen nicht irritieren. Die Dokumentationspflichten will sie nicht abschaffen - und die Kontrollen, wie von der CSU gefordert, schon gar nicht. Das würde Mogeleien ja erleichtern, argumentiert die Ministerin.

Schon jetzt kommen manche Firmen auf kuriose Ideen: Ein Wellnessbetrieb bot seinen Mitarbeitern statt der fälligen Lohnerhöhung Gutscheine für die hauseigene Sauna an. Ein Nürnberger Kinounternehmen erklärte seinen Mitarbeitern, das fehlende Geld bis zu den 8,50 Euro durch Gutschriften für Kinokarten und die Gastronomie, also zum Beispiel Popcorn, abgelten zu wollen. Und Taxifirmen spielen Mindestlohn: Die Fahrer werden weiter nach Umsatz bezahlt, die Arbeitszeit entsprechend angepasst. Oder es wird nur die Fahrzeit - und nicht die oft lange Wartezeit bezahlt. In der Taxibranche kam es auch zu den ersten wahrnehmbaren Jobverlusten. Laut Bundesagentur für Arbeit ist die Zahl der Arbeitssuchenden dort stark gestiegen.

Viele Betreiber von Callcentern sind dagegen froh über den Mindestlohn. Lange Jahre war der Preiskampf in der Branche unerbittlich. Jetzt haben sie bei ihren Auftraggebern mehr Spielraum zum Verhandeln, weil für alle die 8,50 Euro gelten.

"In der Branche sprechen wir jetzt über Qualität, nicht mehr nur über Quantität", sagt Callcenter-Chef Fischer auf Rügen. Und seine Mitarbeiterin Michelle Leistert freut sich: "Ich habe jetzt mehr Geld, um ins Kino zu gehen."

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Quelle:
SZ vom 07.02.2015
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