Am Anfang waren auch viele Chefs der 156 Arbeitsagenturen in Deutschland skeptisch. Im Dezember 2014 fürchteten immerhin 40 Prozent der Behördenleiter, dass der Mindestlohn zumindest in Ostdeutschland zum Jobkiller wird. Zwölf Monate später und damit fast ein Jahr nach Einführung der gesetzlichen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro teilt diese Sorge fast keiner der Agenturchefs mehr. Auch für sie steht nun fest, was der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Joachim Möller, am Donnerstag bei einer Fachkonferenz in Berlin so formulierte: "Die Operation Mindestlohn ist geglückt. Die Kassandrarufe haben sich nicht bewahrheitet."
Für den Ökonomen ist jetzt klar: Weder hat es einen nennenswerten Abbau der Beschäftigung noch eine Konjunkturdelle gegeben, auch nicht in den neuen Bundesländern. Stattdessen haben vor allem gering qualifizierte Arbeitnehmer vom Mindestlohn profitiert. So erzielten nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes und des WSI-Tarifarchivs ungelernte Frauen in Ostdeutschland mit einem Plus von 8,5 Prozent 2015 die höchsten Zuwächse bei den Bruttolöhnen. Bei Männern in dieser Gruppe lag der Wert bei 8,0 Prozent. Im Einzelhandel und Gastgewerbe, bei Wach- und Sicherheitsdiensten, in Wäschereien und bei Friseuren seien in Ostdeutschland im vergangenen Jahr die Löhne besonders stark gestiegen, heißt es in einer neuen Analyse des WSI, das zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört.
Wer besser bezahlt wird, wechselt weniger häufig den Arbeitsplatz
Möller sieht noch weitere positive Effekte. Es gäbe erste Indizien, dass Arbeitnehmer, die nun die 8,50 Euro bekommen, weniger häufig den Arbeitsplatz wechselten. Auch die Lohnungleichheit habe sich offenbar seit 2010 verringert, sagte der Experte. Er vermutet, dass dies auch mit der Einführung von auf einzelne Branchen bezogenen Mindestlöhnen zusammenhängt. Der IAB-Direktor hatte in verschiedenen Analysen nachgewiesen, dass von Mitte der Neunzigerjahre an - und nicht erst mit Beginn der Hartz-Reformen 2004/2005 - die Löhne von Geringverdienern und Hochqualifizierten immer weiter auseinandergedriftet sind. Nun deute sich an, "dass dieser Trend gekippt ist", sagte Möller.
Das Argument, dass der Mindestlohn nur so erfolgreich sei, weil die Konjunktur gut laufe, zieht für ihn nicht. Bei der nächsten Krise werde vermutlich die Nachfrage aus dem Ausland nach deutschen Produkten zurückgehen. Dies treffe vor allem die exportorientierte Wirtschaft, die weit mehr als 8,50 Euro zahle. "Falls dann Jobs abgebaut werden, hat das nichts mit dem Mindestlohn zu tun", sagte Möller.
Der Mindestlohn müsste 2017 auf 8,97 Euro steigen, rechnen WSI-Forscher vor
Schon jetzt zeichnet sich allerdings ab, dass die Lohnuntergrenze 2017 deutlich steigen wird. Dann ist laut Gesetz die erste Anpassung erforderlich. Die mit Gewerkschaftern, Arbeitgebervertretern und Wissenschaftlern besetzte Mindestlohnkommission muss bis Mitte 2016 dafür einen Vorschlag vorlegen. Die WSI-Forscher haben schon mal gerechnet: Maßgeblich ist zunächst die Zwei-Jahres-Entwicklung der Tariflöhne, die im Tarifindex des Statistischen Bundesamtes abgebildet wird. Dieser erhöhte sich 2014 um 2,9 und 2015 um weitere 2,5 Prozent, macht unter dem Strich ein Plus von 5,5 Prozent. "Sollte der Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro pro Stunde um den gleichen Prozentsatz erhöht werden, so ergäbe sich ein Betrag von 8,97 Euro", heißt es dazu in der Analyse.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sagte bei der Tagung dazu nur so viel: Sie sei froh, dass sie nicht über den nächsten Mindestlohn entscheiden müsse. Sie hoffe aber schon auf eine Erhöhung.
Die Aufgabe der Kommission ist heikel. Wird die Untergrenze zu stark erhöht, führt dies zu Jobverlusten. Das sieht auch Arbeitsmarktforscher Möller so, der sich bereits 2007 für einen Mindestlohn ausgesprochen hatte.
Nur wo ist die rote Linie, ab der negative Beschäftigungseffekte eintreten? Möllers lapidar-ehrliche Antwort: "Das kann man nicht sagen."