Süddeutsche Zeitung

Ausbildung:Lehrjahre müssen endlich Herrenjahre werden

Der Mindestlohn für Azubis ist ein überfälliger Schritt - und auch im Sinne der Unternehmer. Die müssen sich daran gewöhnen, den Nachwuchs ordentlich zu bezahlen. Die Marktmacht liegt jetzt bei den Jüngeren.

Kommentar von Hendrik Munsberg

Die Christdemokratin Anja Karliczek gilt unter den Ministerinnen und Ministern im Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel eher nicht als Lichtgestalt. Bisher fiel die Ressortchefin für Bildung und Forschung nur durch zweierlei auf: wenig Kompetenz und wenig Mut. Nun aber setzt sie ein Projekt um, das allgemeinen Beifall verdient.

Diesen Mittwoch will Karliczek dem Kabinett einen Gesetzentwurf vorlegen, der eine Mindestvergütung für Auszubildende vorsieht - einen Mindestlohn für Lehrlinge. Die sollen von 2020 an im ersten Ausbildungsjahr wenigstens 515 Euro monatlich bekommen, bis 2023 steigt die Vergütung in Stufen auf 620 Euro. Für Auszubildende im zweiten und dritten Lehrjahr ist eine entsprechend höhere Staffelung geplant. Der Schritt hat eine historische Dimension, erstmals wird in Deutschland für die Bezahlung von Auszubildenden eine allgemeine Untergrenze festgelegt. Ein überfälliges Projekt.

Lehrjahre sind keine Herrenjahre? Das Motto ist nicht nur verstaubt und antiquiert, sondern in Zeiten chronischen Nachwuchsmangels überaus kontraproduktiv.

Natürlich melden sich jetzt wieder die Kritiker zu Wort, die einwenden, der geplante Mindestlohn für Auszubildende sei zu hoch, vor allem in Ostdeutschland würden deshalb zahlreiche Betriebe in Zukunft keine jungen Menschen mehr ausbilden. Eine ähnliche Debatte gab es bereits, als 2015 der Mindestlohn für reguläre Beschäftigungsverhältnisse eingeführt wurde. Damals warnten die Arbeitgeber schrill, Hunderttausende Arbeitsplätze würden bald vernichtet. Heute liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 9,19 Euro, der Arbeitsmarkt ist trotzdem in blendender Verfassung, sogar jetzt, da sich die Konjunktur eintrübt.

Mit Blick auf den Ausbildungsmarkt kann man einfach die Fakten sprechen lassen: Viele Auszubildende erhalten schon heute deutlich mehr als den geplante Mindestlohn, manche sogar das Doppelte dessen, was Karliczek jetzt per Gesetz festschreiben will. Im bundesweiten Durchschnitt bekam ein Lehrling 2018 tariflich 908 Euro. Für Unternehmen einiger Branchen bedeutet eine Mindestvergütung von 515 Euro aber durchaus eine Umstellung, insbesondere für Betriebe ohne Tarifbindung und für kleinere Firmen in Ostdeutschland. Hier verdienten Fleischerlehrlinge 2018 im ersten Lehrjahr 310 Euro, Friseure 325 und Schornsteinfeger 518 Euro. Karliczek kommt den Unternehmen allerdings auch entgegen: Gewerkschaften und Arbeitnehmer dürfen eine geringere Vergütung vereinbaren, wenn sie das für geboten halten.

Auf dem Arbeitsmarkt ist der Nachwuchs chronisch knapp

Das schlagende Argument dafür, den Mindestlohn für Auszubildende jetzt endlich einzuführen, lautet: Er bewahrt Unternehmen überall im Lande vor einer Selbsttäuschung über die Folgen der demografischen Entwicklung. Die ist viel gravierender, als manche wahrhaben wollen. Auf dem Arbeitsmarkt ist der Nachwuchs schon heute chronisch knapp, die Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren drastisch verschärfen.

Nicht nur Auszubildende, auch Praktikanten können sich heute aussuchen, bei welchem Arbeitgeber und zu welchen Konditionen sie Berufserfahrungen sammeln wollen. Die Wahrheit ist: Die Marktmacht liegt jetzt bei den Jüngeren. Firmen, die da nicht mitziehen wollen, gehen leer aus. Wer heute noch Auszubildende finden will, muss sie vernünftig bezahlen.

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Quelle:
SZ vom 14.05.2019/vit
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