Mindestlohn:Auf zur nächsten Scheinlösung

Im Streit über den Mindestlohn hat die große Koalition ihr ursprüngliches Ziel aus den Augen verloren. Nach zwei Jahren Dauer-Querelen hat man sich lediglich auf "ein bisschen" Mindestlohn verständigt.

Nina Bovensiepen

Interessieren sich drei, fünf, sieben oder doch zwölf Branchen für den Mindestlohn? Sind es nur Förster und Wäschereien oder auch Friseure und Fleischer? Geht es um eine halbe Million Menschen oder um zwei Millionen? Dies sind die zentralen Fragen, auf die sich der Mindestlohn-Streit zwischen SPD und Union derzeit verengt hat - und dies offenbart, wie armselig das Ergebnis einer mehr als zwei Jahre währenden Debatte der Großkoalitionäre ist. Denn in ihrem Ehrgeiz, im Streit um Lohnuntergrenzen so wenig wie möglich von der eigenen Position preiszugeben, haben SPD, CDU wie CSU ihr ursprüngliches Ziel völlig aus dem Blick verloren.

Als die Parteien über Hungerlöhne und Niedrigverdiener zu streiten begannen, stimmten sie überein, dass es nicht in Ordnung ist, wenn Friseure in Sachsen oder Kellner in Thüringen nur drei oder vier Euro in der Stunde verdienen. Trotz dieser Übereinstimmung, die nach wie vor von der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über den Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) bis zu Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) vorhanden ist, hat sich an der Situation bis heute nichts geändert. Das liegt daran, dass SPD und Union über ihren Minimalkonsens nicht hinausgekommen sind. Die Parteien haben sich nie darauf verständigt, ob sie im Kampf gegen Niedriglöhne "ja" oder "nein" zum Mindestlohn sagen. Die Sozialdemokraten würden am liebsten eine allgemeine gesetzliche Untergrenze einführen. Das will aber die Union nicht. CDU und CSU würden die Niedrigverdienste von Friseuren, Kellnern und Fleischern lieber über staatliche Zuschüsse aufbessern. Diese Kombilöhne will wiederum die SPD nicht.

Die von Beginn an verfahrene Situation haben die Koalitionäre aufzulösen versucht, indem sie die Grundsatzfrage offenließen und sich stattdessen für "ein bisschen" Mindestlohn entschieden. Gemäß einem Kompromiss vom vergangenen Sommer soll es daher - anders als in etlichen Staaten - in Deutschland zwar keine allgemeine Lohnuntergrenze geben, in einzelnen Branchen sollen Mindestlöhne aber möglich sein. Bereits in den zurückliegenden Wochen hätten die Konflikte über die Lohnuntergrenze für Briefdienste die Koalitionäre lehren können, dass sie sich damit für die schädlichste Variante entschieden haben: Der Post-Mindestlohn wird für Entlassungen verantwortlich gemacht, er hat womöglich eine dubiose Gewerkschaft hervorgebracht, er verletzt vielleicht wichtige Prinzipien der Tarifautonomie, und all dies beschäftigt inzwischen verschiedene Gerichte.

Ähnliches dürfte sich bald in anderen Branchen abspielen, denn SPD und Union lassen sich nicht belehren, sie bleiben stur, damit keine Seite ihr Scheitern eingestehen muss. Und dazu ist eineinhalb Jahre vor der Bundestagswahl in dem ideologisch aufgeladenen Konflikt keiner bereit. Also werden Scholz, Glos und Co. die nächsten Monate weiter an Scheinlösungen feilen; sie werden um Kompromisse auf der Basis ihrer Kompromisse ringen; und sie werden um kleine Punktsiege in der langen Mindestlohn-Schlacht möglichst viel Wind machen - auf dass nur niemand merkt, dass ihnen die Fähigkeit fehlt, auf die wirklich wichtigen Fragen gemeinsame Antworten zu finden.

Diese Fragen stellen sich aber weiter: Dürfen Unternehmer in Deutschland menschenverachtende Löhne zahlen? Sollen regulär Beschäftigte mit ihrem Einkommen auskommen können? Oder soll es normal sein, dass der Staat und damit die Solidargemeinschaft auf niedriges Einkommen etwas drauflegt? Die Linken um Oskar Lafontaine und Gregor Gysi werden im nächsten Wahlkampf den Eindruck erwecken, sie hätten die perfekten Lösungen parat. Union und SPD hätten theoretisch noch genug Zeit, es nicht so weit kommen zu lassen. Derzeit sieht aber alles danach aus, dass sie diese Chance verpassen.

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