Millionen an Contergan-Geschädigte:Ein Film mit Nebenwirkungen

Grünenthal entschädigt die deutschen Contergan-Opfer mit 50 Millionen Euro. Anlass für die Kehrtwende war auch der ARD-Film über den Skandal. Die Geschädigten bleiben aber skeptisch.

Nina Jauker

Grünenthal konnte wenig anderes tun: Der Arznei-Hersteller hat sich am Donnerstag nach jahrzehntelanger Verweigerung bereit erklärt, 50 Millionen Euro an die Contergan-Opfer in Deutschland zu zahlen - eine Kehrtwende in der bisherigen Unternehmenspolitik im Contergan-Skandal.

Millionen an Contergan-Geschädigte: Nur eine einzige Tablette: Das Beruhigungsmittel Contergan löste eine Katastrophe aus.

Nur eine einzige Tablette: Das Beruhigungsmittel Contergan löste eine Katastrophe aus.

(Foto: Foto: dpa)

Anwaltskrieg und Imageschaden

Der juristische Krieg um den TV-Erfolg "Contergan" im letzten Jahr wurde zu einer zweiten Katastrophe für Grünenthal. Die Pharmafirma hatte alles versucht, um die Ausstrahlung des Films zu verhindern - sie zog bis vor das Bundesverfassungsgericht.

Damit verschaffte Grünenthal dem ARD-Zweiteiler eine Aufmerksamkeit wie keinem anderen deutschen Fernsehfilm. Durch die Fernsehgeschichte wurde Millionen Zuschauern erneut bewusst, welche Katastrophe durch das Grünenthal-Medikament Contergan in den sechziger Jahren ausgelöst wurde.

Mit den aggressiven Versuchen, die Filmemacher juristisch zum Schweigen zu bringen, stellte sich Grünenthal ins Abseits - und in eine Reihe mit Firmen, die Geschädigte mit zynischen Anwaltsbriefen abspeisen. Nur eine völlige Kehrtwende konnte das Ansehen des Unternehmens noch retten.

Der drohende Imageschaden des Pharmakonzerns hat nun positive Folgen für die Contergan-Geschädigten, die seit Jahrzehnten um ein menschenwürdiges Auskommen kämpfen. Denn kurze Zeit nach der Ausstrahlung des Films unternahm der junge Grünenthal-Chef Sebastian Wirtz einen Schritt, den bislang keiner in seiner Familie gewagt hatte: Er traf sich mit Contergan-Opfern. In Gesprächen mit Vertretern des Bundesverbandes Contergangeschädigter ließ sich der 38-jährige Bauingenieur, der seit 2005 geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens ist, die Lebenssituationen der Betroffenen und die Schwierigkeiten ihres Alltags schildern - und überzeugte schließlich seine Mitgesellschafter, die Millionenzahlung zu leisten.

Der Staat zahlt mehr als Grünenthal

"Wenn Sebastian Wirtz heute öffentlich sagt, dass ihm die Aufarbeitung des Contergan-Skandals eine Herzensangelegenheit ist, dann ist er der Einzige, dem ich das abnehmen kann," sagt Margit Hudelmaier, selbst ein Contergan-Opfer. Seit 1991 leitet sie den Bundesverband Contergangeschädigter und führte die Gespräche mit dem Grünenthal-Erben.

Doch auch Hudelmaier weiß, dass der Enkel des Firmengründers Hermann Wirtz den Imageschaden beheben muss, den er mit dem juristischen Kampf um den Contergan-Film über das Unternehmen gebracht hat. Dem Unternehmen selbst steht Hudelmaier skeptisch gegenüber.

An ein Umdenken bei Grünenthal glaubt sie nicht. "Der Film und die Fernseh-Dokumentationen drumherum, die die aktuelle Situation geschildert haben, waren für uns eine Hilfe. Bei Grünenthal hat das eine Reaktion ausgelöst, aber als Umdenken würde ich das noch nicht bezeichnen."

Die 50 Millionen Euro kommen von einem Unternehmen, das im Jahr 2007 einen Umsatz von 860 Millionen Euro gemacht hat. Zum Firmenverbund gehören unter anderem die Dalli-Werke, die Waschmittel für die Discounter Aldi und Lidl produzieren, der Parfümhersteller Mäurer&Wirtz, die Traditionsmarken wie Tabac, Nonchalance oder 4711 Echt Kölnisch Wasser herstellen. Grünenthal selbst ist heute ein Pharmaspezialist mit den Schwerpunkten Schmerztherapie und Verhütung, der im Besitz von 20 Familiengesellschaftern ist.

Das Unternehmen zahlte in den sechziger Jahren 114 Millionen D-Mark (58 Millionen Euro) in die Conterganstiftung. Im Gegenzug verzichteten die Eltern der Contergan-Opfer auf weitere Schadensersatzansprüche. Die Mittel der Stiftung waren bereits 1997 aufgezehrt. Seitdem bezahlte die Bundesregierung die Entschädigungen und die monatlichen Renten der Opfer.

Betrachtet man die staatlichen Leistungen, relativiert sich freilich die Zahlung von Grünenthal. Die Regierung plant zum einen eine Verdoppelung der monatlichen Renten, die den Betroffenen vom Staat gezahlt werden. Momentan betragen diese etwa 500 Euro.

Außerdem will der Bund zu den 50 Millionen Euro von Grünenthal noch einmal denselben Betrag zuschießen. Dieses Geld soll den Kapitalstock der Stiftung auffüllen. Daraus sollen die 2600 Geschädigten, die vom Bundesverband vertreten werden, einmal im Jahr eine Barzahlung erhalten.

Die zusätzlichen 50 Millionen Euro, die die Bundesregierung nun für die Versorgung der Contergan-Opfer verwenden will, sollen allerdings aus einem Bereich der Conterganstiftung abgezogen werden, mit dem bislang Wohnprojekte für Menschen mit Behinderung finanziert wurden.

Auch das sieht Margit Hudelmaier kritisch, denn bei den anderen Behindertenverbänden - denen diese Unterstützung nun entgehen werde - würde die Umschichtung nicht mit Begeisterung aufgenommen. Noch dazu ist eine Änderung des Conterganstiftungsgesetzes notwendig - denn der Bundestag muss die Zweckbindung dieser Mittel erst freigeben.

Die mühsame Verhandlungsarbeit wird so bald also nicht enden. Und auch wenn auf den ersten Blick viel Geld verteilt wurde - "man muss berücksichtigen, dass 35 Jahre lang recht wenig passiert ist", sagt Margit Hudelmaier. "Die Grünenthal-Leute waren sozial immer sehr engagiert - außer bei Contergan-Opfern."

Verglichen mit den Geschädigten in Großbritannien und Schweden ist die Unterstützung in Deutschland ohnehin verschwindend gering. Die rund 450 überlebenden britischen Opfer erhalten pro Kopf jährlich rund 23.000 Euro - in Deutschland waren es bislang etwa 5000 Euro im Jahr.

"Unergiebige Korrespondenz"

Andere Opfer-Organisationen hatten deshalb weit höhere Beträge gefordert. Die ICTA (International Contergan Thalidomide Alliance) etwa, eine Aktivistengruppe, die rund 2000 Contergan-Geschädigte aus verschiedenen Ländern vertritt, wollte von Grünenthal und der Bundesregierung rund vier Milliarden Euro. Den britischen Getränkekonzern Diageo, der Nachfolgegesellschaft des Contergan-Lizenznehmer Distillers, konnte die Opfer-Organisation bereits zu höheren Zahlungen veranlassen.

ICTA-Vertreter hatten bereits mit der deutschen Botschaft in London Kontakt aufgenommen. Die Wirtschaftswoche berichtet, dass ICTA-Aktivist Jonathan Stone, der die Diplomaten um Antwort gebeten hatte, versehentlich eine Mail vom deutschen Diplomaten Armin Jungbluth erhielt, die dieser eigentlich an einen Kollegen schicken wollte: "Herbert, wie soll ich mich verhalten? Ignorieren? Ich möchte eigentlich die unergiebige Korrespondenz nicht mehr weiterführen."

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