Vergleich von Volkswirtschaften:Schaut mal nach Bhutan

Das Bruttoinlandsprodukt steigt - na und? Weltweit wachsen die Zweifel an der Berechnung wirtschaftlichen Erfolgs. Nun sucht der Bundestag nach einem neuen Maßstab. Vorbild könnte ein kaum bekanntes Königreich sein.

M. Balser und M. Bauchmüller

Wann eine Volkswirtschaft wächst, ist mitunter nicht ganz leicht zu sagen. Wächst sie, wenn Unternehmen mehr verkaufen? Wenn alle mehr haben? Oder wenn möglichst viele zufrieden sind? Gert Wagner kennt das Problem, er ist Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und neuerdings Experte einer Enquetekommission des Deutschen Bundestages.

Bhutanese dancers take part in the annual Tsechu festival in Thimphu

Bhutanische Tänzer beim jährlichen Tsechu-Festival in der Hauptstadt Thimphu. Im Himalaya-Königreich Bhutan hat vor Jahren schon ein "Bruttoglücksprodukt" die klassischen Maßzahlen ersetzt.

(Foto: REUTERS)

"Seit meiner Kindheit erlebe ich den Gegensatz von Wachstum und Lebensqualität", lässt Wagner die Kommission gleich zu ihrem Auftakt am Montag wissen. "Ich bin nämlich in Kelsterbach aufgewachsen, gleich in der Nähe des Frankfurter Flughafens." Dort geht die Rechnung ganz anders: Mehr Wachstum heißt mehr Flüge, heißt mehr Lärm. Und schon wird sie unendlich schwierig, die Frage nach dem "guten" Wachstum.

Das passt zum Auftrag der Enquete "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität", die am Montag in Berlin ihre Arbeit aufgenommen hat. "Wir brauchen einen neuen Indikator, der allgemein als Maß von Wohlstand angesehen wird", folgert Daniela Kolbe (SPD), die Vorsitzende der Enquetekommission.

Dieser müsse auch die negativen Folgen von Wachstum einkalkulieren, etwa soziale Verwerfungen, Umweltschäden, den Verbrauch endlicher Ressourcen. Bis 2013 hat sich die Enquetekommission Zeit gegeben, sie soll nicht nur ein neues Maß entwicklen, sondern auch Wege zum Maßhalten. Und das in einem Land, das seit Jahrzehnten darauf gepolt ist, das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, zu steigern.

Doch die Messgröße, bislang international das Maß der Dinge, steckt in der Krise. Vor allem Umweltprobleme wie den Klimawandel ignoriert das BIP völlig. Zerstören Stürme einen ganzen Landstrich, so wie 2005 in New Orleans, erhöhen die Wiederaufbauarbeiten das BIP um Milliarden Dollar. Zerstörungen aber bleiben außen vor. Brennt eine Bohrinsel und fließt Öl aus, werden Aufräumarbeiten positiv gezählt, die Umweltfolgen dagegen ignoriert.

Gleichwohl ist das BIP derzeit der einzige weltweit anerkannte Indikator für Wirtschaftswachstum. Diesen Mittwoch etwa wird es in Deutschland wieder im Mittelpunkt stehen, wenn Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) seinen Jahreswirtschaftsbericht vorlegt.

Vorschlag: Ein grünes Inlandsprodukt

Soziale Sicherungssysteme sind bislang ebenso vom Wachstum des Inlandsprodukts abhängig wie der Arbeitsmarkt. "Wir müssen uns klar machen, dass Wachstum auch etwas mit Fortschritt zu tun hat", sagt der CSU-Politiker Georg Nüßlein, Obmann der Union im Ausschuss. "Wir sind durchaus der Meinung, dass wir so etwas wie Wachstum weiter brauchen."

Deutsche Wirtschaft 2010 um 3,6 Prozent gewachsen

Die deutsche Wirtschaft ist 2010 um 3,6 Prozent gewachsen. Aber was bringt den Deutschen das?

(Foto: dpa)

Doch weltweit wächst die Kritik am klassischen Wachstumsbegriff. Noch vor der deutschen Enquete gingen Länder wie Großbritannien, Frankreich und Kanada auf die Suche nach Alternativen, auch EU, G 20 und OECD fahnden nach neuen Indikatoren. In Kanada entwickelt ein eigenes Institut den "Index fürs Wohlergehen". Die Hoffnung: Ist ein solcher Maßstab erst etabliert, könnte eine Gesellschaft Wege zum nachhaltigen Wachstum entwickeln.

Vorreiter ist ausgerechnet das ansonsten kaum bekannte Königreich Bhutan: Dort hat vor Jahren schon ein "Bruttoglücksprodukt" die klassischen Maßzahlen ersetzt. Ein Beispiel offenbar auch für Großbritanniens Premierminister David Cameron: Er will einen Glücksindikator einführen. Der Politiker kündigte an, dass das Nationale Amt für Statistik (ONS) von April 2011 an die Lebensqualität der Briten misst.

An Ideen mangelt es nicht. So schlägt der Heidelberger Ökonom Hans Diefenbacher ein "grünes" Inlandsprodukt vor. Im Zentrum seines "Nationalen Wohlfahrtsindexes" steht der private Verbrauch.

Davon werden die Kosten des Wachstums abgezogen - etwa die Verschmutzung von Böden, Wasser und Luft. Darin tauchen zwar auch noch nicht alle Umweltschäden auf. Die Tendenz aber ist deutlich: Das Ergebnis zeigt eine Kurve, die seit einem Jahrzehnt von der BIP-Kurve abfällt. "Wir rechnen nicht besser", sagt Diefenbacher: "Wir rechnen nur anders."

Ohnehin ist fraglich, ob es nur um Rechenfragen geht. Die Enquete aus 17 Abgeordneten und ebenso vielen Experten soll deshalb auch klären, ob es eines anderen Ordnungsrahmens bedarf, um nachhaltig zu wirtschaften; ob auch "grundlegende gesellschaftliche Veränderungen und Änderungen im Lebensstil des Einzelnen" nötig werden. Und da, so sind sich die Parlamentarier schon jetzt einig, wird es dann richtig interessant.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: