Sozialpolitik:Deutschland braucht eine Agenda 2040

Kanzlerin Merkel trifft Präsident Putin

Angela Merkels Kanzlerschaft wirkt im 15. Jahr ähnlich erstarrt, wie es damals Helmut Kohls Regierung war.

(Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/)

Gerhard Schröders Reformen waren mutig und machten die Bundesrepublik wieder zur Wirtschaftsmacht. Einen solchen Mut benötigt auch die aktuelle Regierung dringend.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Nach dem langen Wirtschaftsboom werden Deutschlands Manager nervös. Zu deutlich durchkreuzt der Abschwung ihre Gewinnpläne. Einer von ihnen, der BASF-Chef, ruft deshalb nach einer neuen Agenda 2010. Damit entfacht er die Debatte wieder, die das Land seit 20 Jahren spaltet: Waren die Reformen unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder ein notwendiger Weckruf oder eine sinnlose Zumutung? Der Rückblick zeigt, dass die Reformen trotz mancher Mängel ein zentraler Grund sind, warum Deutschland ein Jahrzehnt des Booms erlebt hat. Jetzt, da sich wieder Herausforderungen auftürmen, sollte die heutige Regierung von Schröders Mut lernen.

Als der Niedersachse 1998 an die Macht kam, stand Deutschland schlecht da. Es ächzte unter den Kosten der Wiedervereinigung, die Helmut Kohl unseriös finanziert hatte. Es wurde von der Globalisierung durchgeschüttelt, die alte Gewissheiten zerstörte. Bald sollten fünf Millionen Bürger arbeitslos sein. Deshalb war es richtig, dass Schröder den Reformstau der Ära Kohl auflöste. Indem er den Anstieg der Renten begrenzte, bremste er die Lohnnebenkosten und beteiligte die Senioren an den Kosten der Alterung der Gesellschaft. Indem er die Dauer des Arbeitslosengeldes begrenzte, schuf er Anreize für die Stellensuche. Indem er die verkrustete Jobbehörde modernisierte, verbesserte er die Stellenvermittlung dramatisch.

Solche Erfolge überragen die Fehler, zum Beispiel, dass Billigjobs weiter zunahmen und Hartz IV zuweilen in Schikane ausartet. Ja, Schröder versäumte es, seine Reformkur etwa mit einem Mindestlohn sozial zu flankieren. Viele Fehler sind aber heute korrigiert. So bleibt: Die Reformen halfen, Deutschland wieder zu einer Wirtschaftsmacht zu machen - da stimmen internationale Ökonomen überein.

Deshalb sollte die taumelnde SPD ihren Frieden mit der Agenda machen. Ihr bisher letzter Kanzler bereitete das Land auf die Zukunft vor, schmerzhaft, aber notwendig. Der Rest Europas bewundert das deutsche Jobwunder. Die SPD könnte hervorheben, dass sie sich um eine Verteilung der Früchte des Aufschwungs kümmert. Damit würde sie gleichzeitig das Copyright auf den Boom und auf mehr Gerechtigkeit reklamieren - das hat keine andere Partei zu bieten. Aber für eine solche Strategie müsste die SPD eben zu ihrer Vergangenheit stehen. Stattdessen gibt sie sich als Watschenmann für die Linke her, die mit dem Anti-Agenda-Kurs von Schröders Nemesis Oskar Lafontaine ihre politische Nische definierte.

Eine Lehre hält die Agenda 2010 auch für die ganze Bundesregierung bereit. Angela Merkels Kanzlerschaft wirkt im 15. Jahr ähnlich erstarrt, wie es damals Helmut Kohls Regierung war. Merkel hatte ihre großen Momente, als es Finanz- oder Euro-Krisen zu moderieren galt, was ihr oft gelang. Abseits solcher Notfälle interessiert sie sich für Wirtschaftspolitik wenig. Diese Vernachlässigung ließ mehrere aktuelle Herausforderungen noch größer werden, als sie es ohnehin sind. Man kann die Fragen genauso wenig aussitzen wie Helmut Kohl damals die Sozialstaatsreform, ohne dass das Land Schaden nimmt. Ja, Deutschland braucht eine neue Agenda, umgesetzt mit Schröder'schem Wagemut.

Heute wären aber vorrangig andere Reformen gefragt als damals. Eine Agenda 2040 müsste sich etwa des Klimaschutzes annehmen, geballt, statt mit lauter Einzelmaßnahmen. Wer seine Volkswirtschaft frühzeitig umbaut, verschafft seinen Firmen international Chancen, die für manchen Konsumverzicht entschädigen.

Die Regierung investiert zu wenig, darunter leiden auch die Firmen

Noch mehr als den Klimaschutz vernachlässigt Angela Merkel die Digitalisierung. Am Dienstag ergab eine Studie, dass sich ausgerechnet jene Beschäftigten, die am ehesten durch Maschinen ersetzt werden, am seltensten weiterbilden. Wissen ist der Rohstoff der neuen Zeit, doch die Regierung investiert darin zu wenig. Wie sie überhaupt unter Merkel so wenig investiert, dass Bahnverkehr, Schulen und digitale Netze rückständig geworden sind.

Unter alldem leiden auch die Firmen. Klar wird die Dimension des Problems, wenn man betrachtet, wie sich die USA und China eine Schlacht um die technologische Führerschaft liefern. Wer bei diesem Titanenkampf mithalten will, muss Innovationen durch eine europäische Industriepolitik fördern, der sich gerade Merkels Deutschland verweigert. Die USA haben globale Digitalkonzerne, China seinen Masterplan 2025. Was hat Europa?

Klimaschutz, Investitionen, Industriepolitik, dazu anders als bei Schröder eine soziale Flankierung: Es gibt genug für einen großen Wurf. Deutschland verfügt über hervorragende Forscher, Manager, Gewerkschafter und Ingenieure, die sich hinter einer neuen Agenda versammeln könnten. Mancher mag die Idee angesichts der Kleinmütigkeit der großen Koalition für ein Hirngespinst halten. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Wähler müssten den Parteien anders als bisher demonstrieren, dass sie Reformpolitik honorieren, nicht Populismus.

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