Die EU-Kommission feiert den Vertrag als "umfangreichstes Handelsabkommen" aller Zeiten. Vier Milliarden Euro Zölle pro Jahr sollen wegfallen - zum Wohle der Exportindustrie und der Verbraucher. Doch der Deal mit Südamerikas Wirtschaftsblock Mercosur steht vor dem Aus, weil er dem Klima schaden könnte. Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung ist es auf längere Zeit ausgeschlossen, dass die Mitgliedstaaten zustimmen. EU-Diplomaten sagen, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das heikle Thema vor den Wahlen 2022 nicht anfassen will. Auch Kanzlerin Angela Merkel, lange eine Mercosur-Verteidigerin, geht auf Distanz. Neue Geheimpapiere stützen den Vorwurf, dass der Vertrag den Klimaschutz nicht ernst nimmt.
Das 2019 vereinbarte Abkommen mit Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay würde die größte Freihandelszone der Welt mit 780 Millionen Menschen schaffen. Umweltschützer - und Europas Bauernlobbyisten - stören sich aber etwa daran, dass der Vertrag Mercosur-Staaten erlaubt, 99 000 Tonnen Rindfleisch pro Jahr zum günstigen Zoll in die EU zu verkaufen. Das ist nicht viel: Allein Brasiliens Fleischindustrie produziert elf Millionen Tonnen. Trotzdem befürchten Kritiker weitere Brandrodungen im Amazonas-Regenwald, um Weiden zu schaffen. Eine französische Regierungskommission kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass allein die Rindfleischausfuhren die Entwaldung in Mercosur-Ländern um fünf Prozent beschleunigen könnten. Die Umweltkosten durch zusätzliche Klimagas-Emissionen seien höher als der wirtschaftliche Nutzen des Abkommens. Kritiker beklagen zudem, Brasiliens rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro tue bereits jetzt zu wenig gegen die Brandrodungen am Amazonas.
"Da ist die Pragmatikerin Merkel in ihrer Analyse brutal"
Die Parlamente der Niederlande und Österreichs forderten bereits, den Vertrag abzulehnen. Macrons Skepsis überzeugt offenbar die amtierende EU-Ratspräsidentin Merkel, sonst eine Freihandelsfreundin, sich nicht für Mercosur zu verkämpfen. "Da ist die Pragmatikerin Merkel in ihrer Analyse brutal", so ein Insider. Sogar der neue EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis räumt ein, dass eine Billigung des Vertrags unmöglich sei, bevor die Klimabedenken ausgeräumt sind. Am Mittwoch votierte das EU-Parlament mit großer Mehrheit gegen das Abkommen in jetziger Form.
Weil die Kritik von Anfang an auf den Umweltschutz zielte, ist bemerkenswert, dass die EU dieser Frage im Abkommen keine wichtigere Rolle einräumt. Dieses Versäumnis lässt sich am bisher geheim gehaltenen politischen Rahmenabkommen erkennen, an das Greenpeace gelangte und das nun von SZ, WDR und NDR ausgewertet wurde. Das im Juni vereinbarte Assoziierungsabkommen, dessen Authentizität EU-Abgeordnete bestätigen, nennt zwar Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit als "wesentliche Elemente" - nicht aber Umwelt und Klimaschutz. Das widerspricht dem Vorstoß von Frankreich und den Niederlanden im Mai, das Pariser Klimaabkommen stets zum wesentlichen Element zu machen: in "künftigen und aktuell verhandelten Handelsverträgen".
"Jetzt aber hat Europa dagegen keine Handhabe"
Eine solche Einstufung gäbe der EU ein scharfes Schwert in die Hand. "Wenn eine Vertragspartei aufgrund von Fakten feststellt, dass die andere Vertragspartei Pflichten aus einem wesentlichen Element verletzt, kann sie angemessene Maßnahmen ergreifen", heißt es im mehr als 50-seitigen Assoziierungsabkommen. Die EU kann also Strafen verhängen. Würde Klimaschutz auf diese Weise aufgewertet, könnte Europa grob umweltschädliches Verhalten einfacher sanktionieren. Etwa, wenn Brasilien die Entwaldung des Amazonas durch neue Gesetze erleichtern oder aus dem Pariser Klimaabkommen austreten würde. "Jetzt aber hat Europa dagegen keine Handhabe", kritisiert Jürgen Knirsch von Greenpeace, der den Vertrag generell ablehnt. "Warum verzichtet die EU darauf, gerade Umweltfragen zu sanktionieren?"
Diese Kritik gibt es auch am Handelsteil des Vertrags, der durchaus Klimavorgaben enthält. Die grüne EU-Abgeordnete Anna Cavazzini sagt: "Weder im Handelsteil noch im politischen Rahmenabkommen gibt es harte Instrumente, um gegen Abholzung und Menschenrechtsverbrechen vorzugehen." Dabei zeige der Fall Bolsonaro "deutlich, dass sich manche Regierungen nicht mit zahnlosen Dialogen zum Kurswechsel bringen lassen, sondern nur mit handfesten wirtschaftlichen Konsequenzen". EU-Handelskommissar Dombrovskis will die Kritik zwar aufnehmen. Er gelobt, "die Respektierung der Pariser Klimaverpflichtungen zum wesentlichen Element in künftigen Abkommen" zu machen. Aber damit meint er nicht Mercosur.
"Aus Sicht von Klima und Nachhaltigkeit ist es besser, wenn das Abkommen so nicht kommt"
Unter Fachleuten für internationales Recht wie Markus Krajewski von der Uni Erlangen ist freilich umstritten, wie wirksam die Aufwertung von Klimaschutz zum wesentlichen Vertragselement wirklich wäre. Er fände es sinnvoller, stattdessen das Nachhaltigkeitskapitel des Handelsteils der Streitbeilegung zu unterwerfen. Aber auch das sei nicht der Fall. "Aus Sicht von Klima und Nachhaltigkeit ist es besser, wenn das Abkommen so nicht kommt", sagt Susanne Dröge von der Stiftung Wissenschaft und Politik. In Sachen Klima müssten Abkommen künftig konkreter werden, etwa durch Verabredungen zur Klimaneutralität oder gemeinsame Zielmarken für die Effekte der jeweiligen Handelsströme. Generell fällt auf, dass Umweltschutz im Assoziierungsabkommen keine prominente Rolle spielt. Neuere Klimaziele finden sich darin nicht, um Entwaldung geht es nur in einem Schachtelsatz.
Der Völkerrechtler Peter-Tobias Stoll von der Uni Göttingen beklagt zudem, dass es bei künftigen Veränderungen des Vertrags zu wenig demokratische Kontrolle durch das EU-Parlament gebe: "Das ist schon länger ein großes Problem." Kollege Krajewski moniert, dass die EU das Assoziierungsabkommen bisher nicht veröffentlichte: "Handelspolitik unterliegt nach wie vor der Geheimniskrämerei. Die EU lernt aus ihrem Schiffbruch mit dem TTIP-Abkommen nichts."
Unklar ist, ob Südamerika noch hinter dem Abkommen steht. In Argentinien amtiert seit Ende 2019 eine linksperonistische Regierung unter Alberto Fernández. Der hatte zuvor stets betont, der Mercosur-Deal sei kein Grund zur Freude. Dann erbte er ihn von der marktfreundlichen Vorgängerregierung - genau wie einen gigantischen Schuldenberg. Deshalb ist er in der Zwickmühle. Er muss Schulden abbauen, wofür er Europas Hilfe braucht. Gleichzeitig trifft Corona das Land extrem. Die Regierung braucht jede Hilfe, um Argentinien auf die Beine zu bringen, auch durch den Mercosur-Deal. Fernández wartet nun ab. Wenn die EU-Länder entschieden haben, soll das Abkommen ins Parlament. Dort aber sehen es viele Politiker kritisch. Ihre Angst: Argentinien verkommt zum reinen Fleischlieferanten, während Europa Waren aller Art nach Südamerika exportiert und damit die heimische Industrie zerstört.
Brasilien versucht weiter, das Abkommen voranzubringen. Die Agrarindustrie ist einer der Hauptmotoren der Wirtschaft, das Land weltgrößter Rindfleisch-Produzent. Gleichzeitig sind die Landwirte eine der Hauptstützen von Bolsonaro. Der Präsident weist Europas Bedenken über Umweltzerstörung zurück. Er spielt die Brände herunter, die in den Naturparadiesen des Landes wüten: "Der Amazonas steht nicht in Flammen." Und er wehrt EU-Versuche ab, ihn in einem begleitenden Protokoll zum Handelsvertrag auf Klimaschutz zu verpflichten. So werden selbst Freihandelsfans wie der EU-Abgeordnete Daniel Caspary (CDU) skeptisch: "Wenn ich mir anschaue, wie viel Regenwald gerade verschwindet, ist klar, dass Brasilien gegen den Geist des Abkommens handelt." Die EU verliere ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie den Vertrag trotzdem annehme.
So steht der Mercosur-Vertrag, mit dem Europa so viel wollte, vor dem Aus. Zumindest hat er keine Chancen, bis Brasilien seine Klimapolitik ändert und Frankreich 2022 wählt. Die deutsche Wirtschaft ist enttäuscht. Für exportorientierte Firmen wäre das Abkommen ein notwendiger Lichtblick, sagt Martin Wansleben, Chef des Verbands DIHK. Doch man erlebe eine Zeitenwende: "Wir reden nicht mehr über Kooperation, sondern nur über das Trennende."
Ein endgültiges Aus von Mercosur wäre für die EU ein schwerer Rückschlag. Seit Längerem versucht sie, durch neue Handelsverträge mit einzelnen Ländern Märkte zu erschließen, nachdem das globale Doha-Abkommen nicht zustande kam und sich die USA unter Donald Trump vom Freihandel abwandten. "Wenn Mercosur scheitert, ist auch die Zeit vorbei, in der Europa mit einzelnen Handelsverträgen punkten konnte", warnt der EU-Abgeordnete Markus Ferber (CSU).