Menschen mit Behinderung:Wenn Blinde zahlen wollen

Menschen mit Behinderung: Gregor Cordes ist sehbindert, er findet sich mit Hilfe seines Stocks im Münchner Untergrund und Nahverkehr zurecht.

Gregor Cordes ist sehbindert, er findet sich mit Hilfe seines Stocks im Münchner Untergrund und Nahverkehr zurecht.

(Foto: Robert Haas)

Ein Touchscreen? Und dann noch ohne Ton? Für Sehbehinderte unmöglich zu bedienen. Alltäglichkeiten wie Geldabheben oder Einkaufen werden für sie zur Herausforderung.

Von Julian Rodemann

Der Obdachlose nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, seine fettigen Haare glänzen in der Münchner Abendsonne. "Ich brauche Geld", sagt er und tritt an Gregor Cordes heran. Cordes geht einen Schritt zur Seite. Er kommt gerade von der Arbeit, trägt einen schwarzen Anzug, hinter der getönten Brille sind seine blauen Augen zu erkennen. "Kommen Sie schon", sagt der Obdachlose. "Sie sehen doch vernünftig aus." Cordes' Antwort kommt schnell: "Ach ja? Und wie sehen Sie aus?"

Gregor Cordes ist blind. Mit 25 hat er die Diagnose erhalten: Retinitis Pigmentosa, eine Augenerkrankung, bei der die Netzhaut nach und nach degeneriert. Das Sichtfeld verengt sich, die Patienten sehen immer weniger. Mit 50 verlor Cordes endgültig sein Augenlicht.

Heute ist Gregor Cordes 53 Jahre alt, das Haus verlässt er nicht mehr ohne seinen Blindenstock. Doch der hilft ihm wenig, wenn es um Geld geht. Beim Einkaufen im Supermarkt, beim Geldabheben am Automaten oder dann, wenn ein Obdachloser ihn anbettelt - er muss sich auf sein Gespür verlassen oder anderen, oft auch fremden Menschen vertrauen.

Besuch im Feinkostladen in der Nähe seiner Wohnung. Hier kennt man ihn. Er steuert direkt auf die Käsetheke zu, bestellt 300 Gramm Gouda. "Seit ich blind bin, gehe ich viel gezielter einkaufen", sagt er. Von Sonderangeboten oder auffälligen Dekorationen wird er nicht abgelenkt. Die Blindheit, sagt Cordes, habe auch Vorteile: "Ich lasse mich nicht so leicht verlocken." Er zahlt mit Karte. Der Verkäufer reicht ihm das Kartenlesegerät. Theoretisch könnte er jeden Betrag eingegeben haben, Cordes kann das Display nicht kontrollieren - er muss dem Verkäufer vertrauen. Oder Freunde bitten, ihn zu begleiten.

Auch die Beschaffung von Bargeld ist manchmal schwierig. Cordes ist Kunde der Stadtsparkasse München. Von deren 226 Geldautomaten sind nur sechs mit einer Sprachausgabe für Blinde ausgestattet. In solche Automaten können Sehbehinderte Kopfhörer stecken und sich die Texte auf dem Bildschirm vorlesen lassen. Die Geldautomaten in der Nähe von Cordes' Wohnung gehören nicht dazu.

Im Eingangsbereich seiner Filiale lässt Gregor Cordes den Blindenstock an der Wand entlang gleiten, bis er auf den Geldautomaten stößt. Er ertastet den Bildschirm, findet die Tasten an den Seiten des Monitors, drückt die Taste rechts oben: "Auszahlen". Cordes legt seine Hände auf den Ziffernblock, erfühlt die kleine Erhebung auf der "5" in der Mitte und gibt seine PIN ein. Dann drückt er die Taste links oben, um den Geldbetrag auszuwählen, in diesem Fall 50 Euro. Das alles geht rasch. "Ist nicht schwer: oben rechts, PIN eingeben, dann oben links für 50 Euro." Welche Tasten er drücken muss, weiß er auswendig - jedenfalls bei den Automaten in seiner Nähe. Doch die Anordnung ist nicht überall die gleiche. "Wenn ich unterwegs bin, kann ich kein Geld abheben."

Außerhalb seines Wohnumfeldes, auf Reisen, muss Gregor Cordes einen blindengerechten Geldautomaten suchen. Das ist nicht einfach. Es gibt zwar weder landes- noch bundesweite Zahlen, doch die Angaben einzelner Institute zeigen, dass solche Geldautomaten nicht nur in München Mangelware sind: Die Hamburger Sparkasse betreibt nach eigenen Angaben 360 Geldautomaten, von denen kein einziger eine Sprachausgabe hat. In Darmstadt hat ebenfalls kein Automat der Sparkasse eine solche Funktion.

Blindengerechte Geldautomaten lohnen sich für viele Institute nicht

Doch es gibt auch Städte, in denen Blinde leichter an Geld kommen: In Berlin und Frankfurt sind etwa die Hälfte der Sparkassen-Automaten blindengerecht, bei der Sparkasse Köln-Bonn sind es gar mehr als 80 Prozent.

Natürlich können Blinde theoretisch am Schalter in einer Filiale Geld abheben. Doch viele Berufstätige sitzen im Büro, wenn die Bank geöffnet hat - wie Cordes. "Unter der Woche schaffe ich es fast nie zum Schalter", sagt der gelernte Informatikkaufmann. Noch schwerer haben es Blinde auf dem Land, wo immer mehr Filialen geschlossen oder zusammengelegt werden. Gerade hier sind sie also auf sprechende Geldautomaten angewiesen. Nachfragen bei Banken deuten jedoch an, dass es für Blinde und Sehbehinderte in ländlichen Gebieten wenig Hilfe gibt. Die Mittelbrandenburgische Sparkasse zum Beispiel unterhält 220 Geldautomaten, von denen nur zehn Prozent mit Kopfhörerbuchse ausgestattet sind; im Odenwaldkreis hat die Sparkasse lediglich vier.

Welche Geldautomaten aufgestellt werden, sei "eine geschäftspolitische Entscheidung einer jeden Bank oder Sparkasse", sagt eine Sprecherin der deutschen Kreditwirtschaft. Bedeutet: Ein blindengerechter Geldautomat lohnt sich für viele Institute nicht - angesichts von geschätzt 1,2 Millionen Sehbehinderten in Deutschland, von denen viele, wenn sie nicht ganz blind sind, auch reguläre Automaten nutzen können.

Immer mehr Geräte funktionieren ohne Tasten: Wasch- und Spülmaschinen zum Beispiel

Probleme bereiten den Blinden aber nun jene Automaten, die nur mit Touchscreens funktionieren, die also keine Tasten haben. Nicht nur beim Geldabheben. Auch Fahrkartenautomaten oder Haushaltsgeräte wie Wasch- und Spülmaschinen lassen sich oft nur noch über berührungsempfindliche Bildschirme steuern. "Bei Touchscreens sind wir aufgeschmissen", sagt Melanie Egerer vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund.

Wenn Cordes Geld abgehoben hat, folgt die nächste Herausforderung: Er muss die Scheine voneinander unterscheiden, um sie im Portemonnaie richtig einzusortieren. Cordes nimmt jeden Schein einzeln in die Hand, knickt ihn, streicht ihn glatt, befühlt die Ränder. Die Zehner und Fünfer erkennt er sofort, einen Zwanziger ordnet er jedoch als Zehner ein.

Als Anfang April der neue 50-Euro-Schein in Umlauf kam, wird das den meisten Menschen kaum aufgefallen sein. Äußerlich unterscheidet sich der neue Schein kaum von seinem Vorgänger. Für Blinde hingegen schon, er ist leichter zu erkennen: Er hat geriffelte Erhebungen an den Rändern der Vorderseite. Auch die neuen Zwanziger- und Zehnerscheine haben einen fühlbaren Streifen, allerdings nicht durchgängig wie auf dem Fünfziger, sondern mit glatten Unterbrechungen: Zwei glatte Stellen bedeuten 20, eine glatte Stelle zehn Euro. Die Europäische Blindenunion hatte sich dafür eingesetzt.

Auch die alten Euro-Scheine haben eine Erhebung. Sie nutzt sich aber ab. Bleibt abzuwarten, ob die Markierungen der neuen Scheine haltbarer sind. Cordes kommt mit den Scheinen gut zurecht, er verwechselt sie selten. Ihm hilft auch, dass sie unterschiedlich groß sind. Das ist nicht überall so: Dollar-Noten sind alle gleich groß. Leichter ist es mit den Münzen. Dem Obdachlosen gibt Cordes trotzdem keine. Ob dieser hilfsbedürftig ist, kann er schließlich nicht sehen.

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