Neulich hat sie schon wieder zwei Männer aus dem Hof verjagen müssen. "Unverschämt", sagt Charlotte Scheer: Am helllichten Tag standen die Menschen im Anzug zwischen Blumenbeet und Sandkasten und glotzten die Fassaden hoch. "Hier fahren jede Woche Immobilienunternehmen durch den Kiez, schauen sich die Häuser an und schreiben den Hausverwaltungen: Wollen Sie verkaufen?"
Es ist Ausverkauf in Berlin-Neukölln, einst verratzter, verarmter, verdreckter Arbeiterbezirk. Nun steigen die Immobilienpreise, die Mieten ebenso. Wie überall in Berlin. Immer mehr Leute ziehen in die Stadt, Studenten und junge Familien, Akademiker aus dem Ausland, Geflüchtete, Deutsche aus der Provinz. Investoren entkernen und sanieren, reißen ab und bauen neu. Das ist nicht nur in Berlin ein Problem, sondern in vielen deutschen Städten.
Dieser Text ist Teil des Projekts #MeineMiete. Lesen Sie hier die zentralen Ergebnisse der großen SZ-Umfrage und hier alle Texte zum Thema.
Die Umfrage der Süddeutschen Zeitung bei 57 000 Mieterinnen und Mieter ergab: In den Großstädten fürchten sich viele vor einem Umzug. Sie bleiben lieber in Wohnungen, die nicht mehr zu ihrem Leben passen. Wer raus muss, hat Pech. Doch auch die, die in ihren Wohnungen bleiben, spüren die Veränderung. Die Eckkneipe schließt, das vegetarische Café eröffnet, statt Schrippen vom Späti gibt's auf einmal Dinkelbrötchen vom Biobäcker.
Und es ziehen eine ganze Menge Leute in die Nachbarschaft, die ganz anders sind als die alten Bewohner. Die einen zahlen fünf Euro Kaltmiete, die anderen 15 Euro. Die, die schon immer da sind, fühlen sich an den Rand gedrängt. Sie haben das Gefühl: Wer das Geld hat, entscheidet über den Kiez. Und die, die dazukommen, sind in einer Zwickmühle. Sie schätzen Berlins Innenstadtviertel für ihre soziale Mischung, die Kreativen, die Habenichtse, die Lebenskünstler, die Multikulti-Nachbarschaften, aber auch die immer neuen, angesagten Läden. Und müssen sich fragen, ob sie genau diese Mischung am Ende nicht zerstören, weil ihretwegen die Mieten unaufhörlich steigen.
Das Haus, in dem die Kunsthistorikerin Charlotte Scheer, 53 Jahre alt, wohnt, ist dafür ein gutes Beispiel. Eigentlich heißt sie anders, ebenso die anderen Menschen in dieser Geschichte. Kleine Details ihrer Lebensgeschichten sind verfremdet. Sie fürchten Ärger mit dem Vermieter. Scheer lebt seit 21 Jahren in Neukölln, in einer ruhigen Straße direkt an einem Park. Sie führt durch das Haus, in dem sich auf jedem Stockwerk eine neue Geschichte offenbart.
Vier Mieterhöhungen in 13 Jahren
Im Erdgeschoss ist Neukölln noch ganz das Alte. Hier wohnt auf 82 Quadratmetern in 2,5 Zimmern, eins zur Straße, eins zum Hof, Svenja Reinhard mit ihrem Sohn Linus. Vor 13 Jahren ist die heute 44-Jährige mit Linus' Vater eingezogen, sie war damals schwanger. Vor ihnen hatte ein Schuster hier im Erdgeschoss sein Geschäft, mit riesigen Fenstern direkt auf die Straße. Die Räume waren unrenoviert, auf dem Boden lag alter Teppich. "So eine Wohnung hat man damals in Neukölln kaum losgekriegt", sagt Reinhard. Für die jungen Eltern mit wenig Geld war es aber genau das Richtige.
Reinhard und ihr Freund verlegten einen Holzboden, strichen die Zimmer, störten sich nicht an den feuchten Wänden und dem alten Bad. Ihre Beziehung hielt allerdings nur drei Jahre. "Als ich in der Hausverwaltung anrief und ihn aus dem Mietvertrag haben wollte, merkte ich schnell: Oh, das wird nicht leicht", sagt Reinhard. Sie lebte damals gerade von Hartz IV, die Frau an der anderen Leitung fragte: "Wie wollen Sie alleine die Miete bezahlen?" Jemandem wie ihr, so machte sie deutlich, könne sie keinen Mietvertrag geben. Reinhard ließ die Sache auf sich beruhen. Bis heute steht ihr früherer Freund im Mietvertrag. "Ich habe Glück, dass er das mitmacht", sagt sie. "Als alleinerziehende Mutter hätte ich in Neukölln keine Chance mehr."
Selbst ohne Umzug ist das Geld knapp. Reinhard hat in 13 Jahren vier Mieterhöhungen bekommen, immer parallel zur steigenden örtlichen Vergleichsmiete. Die letzte Mieterhöhung hat Reinhard allerdings abgewehrt, wegen des Schimmels an den Wänden, der Ratten im feuchten Keller, des alten Bades. Das Haus hat so einige Macken, alle Bewohner berichten davon. 6,70 Euro Kaltmiete zahlt sie inzwischen pro Quadratmeter. Sie macht gerade eine Weiterbildung zur Masseurin, stockt mit Geld vom Jobcenter auf. "Die wollen, dass ich in eine kleinere Wohnung ziehe", sagt sie.