Medizintechnik:Spielend in den Körper

Der Weltmarktführer Brainlab aus München revolutioniert mit Digitaltechnik und Augmented-Reality-Brille die Arbeit im Operationssaal.

Von Marc Beise

Medizintechnik: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Vom obersten Stock seines Turms hat Stefan Vilsmeier einen Blick weit über München. Der Turm, das ist der frühere Fluglotsen-Tower des Flughafens München-Riem. Das Areal ist längst stillgelegt, der Flughafen ins Erdinger Moos umgezogen, aber der Turm ist noch da. An das denkmalgeschützte Gebäude, in dem sich Konferenzräume und ganz oben eine Bar befinden, lehnt sich das Hauptquartier der Firma Brainlab an, die Stefan Vilsmeier vor 30 Jahren gegründet und zum Weltmarktführer für den digitalen Operationssaal gemacht hat.

Weltmarktführer, heißt es häufig, das waren doch die Erfolgsgeschichten der jungen Bundesrepublik, nacherzählt, gepriesen, und heute kommt halt nichts mehr nach. Kommt aber schon was nach, manchmal - wenn Neugier, Dynamik und strategischer Weitblick zusammenfinden. So wie bei Stefan Vilsmeier aus Oberbayern, der sich schon als Schüler für Computer und Software und 3 D-Technik begeisterte, also die digitale dreidimensionale Abbildung der Wirklichkeit. Ein Fachbuch, das er noch als Schüler verfasst hat, brachte ihm so viel Geld ein, dass er davon ein Startup gründen konnte, das die 3 D-Technik in den Operationssaal bringen würde. Das Startup von Anfang der Neunzigerjahre ist heute ein veritabler Weltmarktführer geworden, der immer weiter ausgreift.

Begonnen hatte das alles, als Vilsmeier in einem Krankenhaus in Wien sah, wie die Ärzte zwar Röntgenaufnahmen und Bilder am traditionellen Lichtkasten begutachteten, sie dann aber zur Seite legten und sich ans Operieren machten. Wie kann das sein, fragte er sich, dass es jetzt nur auf das Erinnerungsvermögen des Arztes ankommen würde, dass die Erkenntnisse aus den Bildern nicht weiterhin und parallel genutzt werden?

Stefan Vilsmeier in der neuen Brainlab Zentrale in München, 2017

Stefan Vilsmeier, 53, ist Gründer und Vorstandsvorsitzender des Medizinsoftwareherstellers Brainlab AG.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Das also wurde sein Geschäftsmodell: Brainlab wertet Röntgen- und Tomografiebilder digital aus und erstellt daraus eine Art Navigationssoftware für den Weg durch den Körper. Am Bildschirm sehen die Onkologen genau, wo der Tumor sitzt, und die Chirurgen, wo sie gerade schneiden. Die nächste Stufe hat Vilsmeier gerade gezündet: Seit dem vergangenen Jahr hat er ein Equipment im Angebot, bei dem der Operateur nicht mehr seitlich auf einen Bildschirm gucken muss, sondern eine sogenannte Augmented-Reality-Brille aufsetzt, die ihm dreidimensional Ultraschalldaten, MRT-Bilder und weitere Patienteninformationen in sein Gesichtsfeld einblendet. Dabei arbeitet Brainlab mit dem amerikanischen AR-Spezialisten Magic Leap zusammen.

Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz werden die Rohdaten analysiert und als 3D- Strukturen abgebildet. Der Operateur bewegt sich also sozusagen in Echtzeit in einer imaginären Welt, die ihn tief in den Körper des Patienten hineinführt und das Skalpell lenkt. Und wenn man das weiterdenkt, dann kann anderswo in der Welt ein Spezialist eine zweite AR-Brille aufsetzen, sich ebenfalls und diesmal ausschließlich virtuell im Körper des Patienten bewegen und den Operateur beraten. Für die Simulation von chirurgischen Eingriffen ist das System schon zugelassen und innerhalb kürzester Zeit bei mehr als 100 Zentren zum elementaren Werkzeug zur Vorbereitung komplexer Operationen geworden.

Heute gibt es Brainlab-Technik in 5500 von 7000 dafür geeigneten Krankenhäusern

Mit der Idee, den Ärzten im Operationssaal digitale Technik an die Hand zu geben, hat Vilsmeier nach anfänglichem Unverständnis seitens der Mediziner ("ein guter Arzt braucht keine Technik") den Weltmarkt erobert. Heute findet sich Brainlab-Technik in 5500 von 7000 dafür geeigneten Krankenhäusern weltweit. In der Branche ist der Gründer eine feste Größe, in Bayern sowieso, aber auch die Kanzlerin war schon zu Besuch in München-Riem.

Im SZ-Gespräch zieht Vilsmeier exklusiv eine vorläufige Bilanz des am 30. September abgelaufenen Geschäftsjahres 2019 / 2020. Brainlab verbuchte einen Umsatz - inklusive sonstiger Erträge - von 417 Millionen Euro. Das Ebitda, also der Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen, beträgt mehr als 100 Millionen Euro. Davon stammt zwar etwas Rückenwind von Sondereffekten, aber auch das operative Geschäft, bereinigt um diese Effekte, wuchs um knapp zehn Prozent, das Ebitda um mehr als 25 Prozent - und Vilsmeier traut sich in den kommenden Jahren locker eine Verdopplung zu.

Wo andere unter Corona vorsichtig werden und die Erwartungen zurückschrauben, startet er erst so richtig durch. Als im Frühjahr der erste Lockdown kam, war er gerade mit der Gründung eines neuen Unternehmens beschäftigt und sah keinen Grund, die Aktivitäten zurückzufahren. 65 dafür abgestellte Brainlab-Beschäftigte und 100 neue Mitarbeiter sollen das bisherige Geschäftsmodell der Mutterfirma ausbauen und absichern.

Das neue Tochterunternehmen namens Snke OS hat das aus der Heilmedizin bekannte Kriechtier im Logo, im Firmennamen wird allerdings - ein kleiner Gag des Chefs - das "a" im englischen Wort für Schlange unterschlagen. Geplant ist ein universelles Betriebssystem, das nicht nur Brainlab selbst für seine Produkte nutzen kann, sondern die gesamte Medizintechnikindustrie. Ein Windows für die Gesundheitswirtschaft sozusagen.

Und jetzt, während sich die Corona-Lage wieder bedrohlich zuspitzt, ist Vilsmeier schon wieder in Bewegung und arbeitet an einer digitalen Lösung für die Präsentation seiner Produkte. Eine Idee, aus der Not geboren, ist Brainlab doch eigentlich darauf eingerichtet, dass Kunden aus aller Welt in die Firmenzentrale auf dem alten Flughafengelände kommen und dort die OP-Technik im Einsatz sehen.

Die Datenbrille kommt per Post, so erreicht man Kunden überall auf der Welt

Vor Corona, sah ein solcher Besuch so aus: Die Gäste wurden in den Keller der Firmenzentrale geführt, ein fast schon gespenstischer Weg über Gitterroste auf einem Metallboden durch Schleusentüren in einen Hochsicherheitsbereich. Dort ist in der Mitte des Raums ein weißer Operationstisch aufgebaut, darauf das Modell eines menschlichen Torso. Die Gäste wurden auf weißen Drehstühlen ringsum an den Wänden platziert und setzten eine AR-Brille auf. Vor ihren Augen wurde der digitale Patient erlebbar, Schicht für Schicht.

Locker tausend Kundengruppen aus aller Welt sind in den vergangenen Jahren nach München gereist - bis das Virus kam. Nun ist der Demoraum im Keller verwaist, und umgekehrt sind auch den Besuchen der Brainlab-Außendienstler in den Krankenhäusern Grenzen gesetzt. Also setzt Vilsmeier nun sein in der Medizintechnik erworbenes Wissen auch im Vertrieb ein. Mit großem Aufwand ließ er zunächst eine virtuelle Tour entwickeln.

Drohnen umfliegen die Firmenzentrale zunächst von außen, zoomen dann auf den Firmenchef, der mit der Präsentation beginnt. Für den Fall, dass es in dieser Erzählung noch nicht ganz deutlich geworden sein sollte: Bei Brainlab ist alles, wirklich alles auf die Person des Gründers und Vorstandsvorsitzenden zugeschnitten. Der sagt das so: "Wenn unsere Kunden hohe Investitionen in Infrastruktur tätigen, entscheiden sie sich faktisch langfristig für einen Technologiepartner. Deshalb ist es wichtig, neben der technischen Beurteilung der gegenwärtigen Technologie auch Einblicke in die Vision und Roadmap des Unternehmens zu erlangen."

Also: Drohnenzuspielungen, vorproduzierte Kamerafahrten, eingeblendete Grafiken und immer wieder Stefan Vilsmeier selbst, das ergibt eine - einem Live-Erlebnis nahe - virtuelle Tour, die mit zwei Personen und einer Stunde Vorbereitungszeit jederzeit für den spezifischen Kunden personalisiert werden kann. Noch mal der Chef: "Damit erreichen wir wesentlich mehr Kunden, ohne Reisezeit, und können Elemente davon auch in virtuelle Messen einbeziehen." Und was seine Außendienstler angeht, die viele Krankenhäuser in der aktuellen Situation nicht mehr besuchen können, so hat Vilsmeier auch für sie virtuelle, interaktive Demos entwickeln lassen.

Mixed Reality (MR) auf Basis der Datenbrille "Magic Leap One" bietet neue Optionen. So erhält ein Kunde irgendwo draußen in der Welt die Datenbrille einfach zugeschickt, und kann damit, so Vilsmeier, "in einer Session zusammen mit erfahrenen Anwendern in anderen Kliniken komplexe Fälle anhand des 3 D-Modells besprechen und so eine ,Immersive Experience' erfahren, die mit bisherigen Methoden so nicht möglich war".

In diesem Sommer hat Vilsmeier auch noch einen Videospiele-Hersteller gekauft

So etwas fällt nur jemandem ein, der selbst ein Spieler und Tüftler ist. Der jetzt in Corona-Zeiten in die Fahrstühle seines Hauptsitzes abwaschbare Folien über die Knöpfe hat kleben lassen (wirklich simpel, aber muss man auch erst mal drauf kommen) und der in seinem Büro verschiebbare Wände als Hintergrund installiert hat, um bei Videoaufnahmen besonders professionell rüberzukommen. Der dazwischen aber auch immer noch Zeit für die ganz großen Entscheidungen hat.

In diesem Sommer, chronologisch zwischen der Gründung von Snke OS und der Konzeption der virtuellen Verkaufsschulung, hat Vilsmeier Level Ex gekauft, den Videospiele-Hersteller aus Chicago, es ist die bisher größte Akquisition der Firmengeschichte. Von Brancheninsidern wird Level Ex auf mehrere hundert Millionen Euro geschätzt. Auf diese Idee wären die großen Konkurrenten von Siemens Healthineer sicher nicht gekommen - was zum Henker hat ein Game Producer mit einem Medizintechnikhersteller zu tun?

Och, ziemlich viel, sagt Vilsmeier. Immerhin handelt es sich um einen Produzenten von Serious Games, Videospielen also, die vor allem Informationen vermitteln sollen. Das ist ein vergleichsweise kleines Segment des Videospielemarktes, vielleicht fünf Prozent, was aber auch schon für mehrere Milliarden Dollar weltweit steht. Bei Level Ex geht es zum Beispiel um Videospiele fürs Handy, die bei Medizinern beliebt sind, weil sie damit ihre klinischen Fähigkeiten trainieren können.

Brainlab will jetzt neue Spiele für die Orthopädie, Onkologie und Dermatologie anbieten, vermutlich ein nettes kleines Zusatzgeschäft - vor allem aber, und jetzt kommt es: Die Level-Ex-Expertise soll dem neuen Unternehmen Snke OS helfen, das geplante umfassende Betriebssystem zu entwickeln. Willkommen in Stefan Vilsmeiers Welt, in der alles am Ende zusammenpasst. Der Chef selbst übrigens ist schon einen Schritt weiter und plant bereits, streng geheim, den nächstes Zukauf. Kommt, ziemlich sicher, ziemlich bald.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: