Berlin/Unterföhring (dpa) - Der Ablauf ist eigentlich seit mehr als anderthalb Jahrzehnten klar: Heidi Klum schrillt „...und „Germany's Next Topmodel“ ist....
Dann setzt sie ein, zwei Kunstpausen und schreit schließlich einen Namen. Die Trägerin dieses Namens schlägt sich sogleich die wohlmanikürten Hände vors Gesicht und bricht in Freudentränen aus. Nicht so 2021. Alex weint nicht. Die Siegerin der Castingshow beweist einmal mehr Coolness, Klasse und Contenance und sagt im ersten Interview nach der Siegerehrung: „Ich geh' jetzt erstmal 'n Schnitzel essen.“
Die 23 Jahre alte, 1,84 Meter große Studentin aus Köln setzte sich am Donnerstagabend im Finale der Show in Berlin durch gegen das Große-Größen-Model Dascha, die erklärte Favoritin Soulin und die rotgefärbte Romina.
Ein verdienter Sieg - nicht nur, weil sie im Finale selbst (fragwürdige Kostüme hin oder her) die mit Abstand überzeugendste Leistung ablieferte, sondern auch, weil sie in der gesamten Staffel trockenen Humor bewiesen und weise Worte gesagt hatte. „Alex, the Queen“, feiern Fans die Gewinnerin auf Twitter. „Wie kann man nur so schön sein?“
Auch wenn die 20 Jahre alte Abiturientin Soulin als Favoritin in das Finale gegangen war - nach der Show, die zum zweiten Mal nach 2020 unter Corona-Bedingungen und ohne Publikum stattfinden musste, wäre eine andere Siegerin kaum denkbar gewesen. Das liegt nicht nur an Alex' tadellosem Auftritt, sondern auch an einem neuen Anstrich, den die Castingshow sich gegeben hat. „Diversity“, also Vielfalt, war das Motto der „GNTM“-Staffel Nummer 16.
Darum hatten es in diesem Jahr Frauen ins Finale geschafft, die die Endrunde früher - als Models sich bei Heidi Klum noch dafür rechtfertigen mussten, Pommes gegessen zu haben (mit Majo!) - wohl eher nicht erreicht hätten: ein kurvigeres Model, eine junge Frau, die mit unter 1,70 Metern eigentlich zu klein ist für das Geschäft, eine Abiturientin, die erst vor fünf Jahren als Geflüchtete aus Syrien nach Deutschland gekommen war - und Transgender-Model Alex.
Bei ihr stand ursprünglich mal „männlich“ in der Geburtsurkunde, darum wollte sie aber nie viel Aufhebens machen: Ich hab' am Anfang immer gedacht, meine Geschichte ist immer schon auserzählt, wenn man meine Stimme hört, sagte sie. Und: „Ich bin eine transsexuelle Frau, ja. Aber in erster Linie bin ich eine Frau.“
Besonders an den vier Finalistinnen ist vor allem, dass sie alle ob des Finalausgangs weitgehend ungerührt wirken. Die 21 Jahre alte Romina beispielsweise muss zwar als Erste der vier Finalistinnen gehen, darf sich aber auch so über Hunderttausende neue Instagram-Follower freuen, die zu ihren ursprünglich schon 85 000 dazu gekommen sind. 512 000 sind es am Finalabend auf ihrem offiziellen GNTM-Account.
Und auch die 21 Jahre alte Dascha hat - wie auch Soulin (125 000 Abonnenten auf Instagram) - das Maximum an Sendezeit rausgeholt, in der Staffel einige Modeljobs an Land gezogen und 237 000 Instagram-Follower - fast so viele wie Gewinnerin Alex (244 000). Wer braucht da noch den Titel? Und wer will noch Heidis „Meeedchen“ sein, wenn man auch eine selbstbewusste junge Frau sein kann?
Kurz vor dem Finale hatten einige Aktivistinnen halbnackt vor der ProSieben-Zentrale in Unterföhring bei München gegen die Show und ein dort aus ihrer Sicht vorherrschendes Schönheitsideal demonstriert. „Auch mit normalen und weiblichen Körpern kann man vor der Kamera stehen und sich in der Gesellschaft zeigen“, sagte die Versammlungsleiterin. Kritik, die es immer wieder gab an „GNTM“, die aber womöglich in diesem Jahr nicht gerechtfertigt ist.
Aus Sicht des Transgender-Models Lucy Hellenbrecht hat ProSieben mit dem Diversity-Motto den Mund nämlich nicht zu voll genommen: Wirklich sehr cool, dass Heidi Klum mit ihrer Ankündigung nicht zu viel versprochen hat, sagte die ehemalige GNTM-Kandidatin kurz vor dem Finale dem Nachrichtenportal watson.
Trotzdem lässt das Topmodel-Finale einige Fragen offen: Wer hatte die Idee, dass die Band von Klums Ehemann Tom Kaulitz unter ihrem Kleid hervorkommen muss? Warum müssen die Finalistinnen als Blumenvasen über den Catwalk laufen? Warum gibt es eine Backstage-Moderatorin, wenn Backstage niemand ist (der Abschieds-Walk der besten 20 Teilnehmerinnen musste wegen einer Corona-Infektion bei einem der Models ausfallen)?
Und hat wirklich ein männlicher Zuschauer aus der Reihe der 600 per Videochat zugeschalteten Fans, Freunde und Familie seinen Phallus in die Kamera gehalten? (Antwort hier übrigens: Nein. Ein entsprechendes Bild, das bei Twitter kursierte, war nach Angaben von ProSieben eine Fotomontage: „Da hat sich jemand einen unschönen Scherz erlaubt“, sagte eine Sprecherin.)
Auf Twitter mehrten sich die verwunderten Stimmen über den Finalablauf. Darüber zum Beispiel, dass es auf der Instagram-Seite kurzzeitig hieß, die spätere Siegerin Alex sei raus und damit auf Platz drei. „Unser Social-Team bereitet sich im Vorfeld auf alle Konstellation vor. Und hat nach der Bekanntgabe von Platz 3 für ein paar Sekunden ein falsches Foto hochgeladen“, erklärte eine Sprecherin am Freitag.
Vor allem aber der Platz, den Kaulitz' Band Tokio Hotel im Finale einnahm, sorgte für Diskussionsstoff. Die verpoppte nämlich - zum Entsetzen einiger - Limp Bizkits Klassiker „Behind Blue Eyes“ in einer Coverversion und drehte das Musikvideo dazu gleich auf der GNTM-Bühne. „Wenn du merkst, dass #gntm nur eine gut platzierte Tokio Hotel Werbung ist“, twitterte jemand. Oder: digga ich will gntm schauen und keine tokio hotel dokumentation.
Auch wenn die Einschaltquote in der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen mit mehr als 25 Prozent die beste seit Jahren war und insgesamt sogar fast drei Millionen Menschen zuschauten: Das Finale war der 16. Staffel, da waren sich viele Fans auf Twitter einig, eigentlich nicht würdig. Doch wenn die Show in diesem Jahr eins gezeigt hat, dann, dass sie lernfähig zu sein scheint. Und vielleicht wäre künftig sogar das eine Alternative, was ProSieben am Donnerstag mit dem sogenannten „Personality Award“ machte, der seit einigen Jahren quasi als Trostpreis im Finale vergeben wird: Dass Teilnehmerin Liliana ihn bekam, war ProSieben nicht mehr als eine Instagram-Randnotiz wert.
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