Frankfurt/Main (dpa) - Ausschnitte aus Vernehmungsvideos des mutmaßlichen Mörders von Kassels Regierungspräsident Walter Lübcke sind auf der Online-Plattform Youtube veröffentlicht worden.
Der moderierte Beitrag stammt vom Reportageformat „STRG_F“ von „funk.net“, dem Online-Angebot für junge Menschen von ARD und ZDF. In dem gut 25 Minuten langen Video werden seit Dienstagnachmittag kommentierte Ausschnitte gezeigt, in denen der wegen Mordes angeklagte Stephan Ernst sein mittlerweile zurückgezogenes Geständnis ablegt und schildert, wie die Tat geschehen sein soll. Bis Mittwochnachmittag hatten rund 300.000 Nutzer den Beitrag abgerufen.
„Ich möchte, dass der Terror zu ihnen kommt“ - dieser mit gepresster Stimme herausgestoßene Satz mitten aus der dreistündigen ersten polizeilichen Vernehmung von Ernst fällt als erstes in dem Online-Beitrag, erinnert ein wenig an klassische Bekennervideos. „Dies ist die Geschichte einer Vernehmung“, sagt dann eine Stimme aus dem Off und führt in den Fall ein.
Auch Schlüsselausschnitte anderer Polizei-Vernehmungsvideos, in denen Ernst von einem „Unfall“ spricht, bei dem sich der tödliche Schuss versehentlich gelöst habe, sind darin zu sehen. Die Autoren geben in dem Bericht an, das Material sei ihnen zugespielt worden.
Vor Gericht wurden die Videos dreier Vernehmungen gezeigt, die insgesamt mindestens zwölf Stunden dauerten. Der kommentierte Zusammenschnitt auf nicht einmal 30 Minuten wirkt dramatischer und dynamischer als die Vernehmungen - etwa wenn Ernst auf Nachfrage sagt: „Der Tatentschluss war klar.“ Auch die Worte „Ich habe auf Kopfhöhe gehalten und abgedrückt“, die in dem Videobeitrag gleich in den ersten Minuten zu hören sind, fielen im Original-Vernehmungsvideo erst nach mehreren Stunden.
Die Ausschnitte können das lange Ringen um Äußerungen und Erklärungen, die Nachfragen zum Hergang und die Konfrontation mit Widersprüchen nur ansatzweise wiedergeben. Deutlich wird aber auch hier das völlig unterschiedliche Verhalten Ernsts - einerseits die emotionale, tränenreiche erste Vernehmung mit dem Tatgeständnis, andererseits die einsilbigen, emotionslosen Schilderungen des Tods Lübckes als „Unfall“, bei dem sich der Schuss versehentlich gelöst haben soll.
Ernst muss sich seit Juni vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt verantworten. In der Hauptverhandlung waren die jeweils mehrstündigen Videos von Vernehmungen Ernsts durch Beamte des hessischen Landeskriminalamts (LKA) im Juni sowie Anfang Juli gezeigt worden.
Eine Gerichtssprecherin sagte am Mittwoch, der Senat und die Verfahrensbeteiligten seien über den Online-Beitrag von „STRG_F“ informiert. „Wir gehen angesichts der Qualität der Aufnahmen davon aus, dass es sich um keinen Mitschnitt handelt“, sagte die Sprecherin zur Möglichkeit einer illegalen Aufnahme im Gerichtssaal. Rechtlich spiele die Veröffentlichung des Materials für den laufenden Prozess keine Rolle, da das Material bereits in die Hauptverhandlung eingebracht worden sei. Es sei nichts in die Öffentlichkeit gelangt, was nicht bereits Inhalt der öffentlichen Verhandlung gewesen sei.
Auch die verantwortliche Redaktion argumentiert so. „Das hohe Berichterstattungsinteresse rechtfertigt für uns die zudem einordnende Veröffentlichung“, sagte eine Sprecherin des zuständigen Norddeutschen Rundfunk (NDR). Der Angeklagte Stephan Ernst sei Person der Zeitgeschichte. Und man habe die rechtlichen Grundlagen für eine Veröffentlichung intensiv geprüft. Das Oberlandesgericht habe dabei lediglich unterstrichen, dass Aufnahmen während der laufenden Hauptverhandlung unzulässig seien. „Diese haben wir selbstverständlich nicht durchgeführt“, so der NDR.
Der Deutsche Strafverteidiger Verband (DSV) beurteilt den Fall kritisch. Grundsätzlich sei in solchen Fällen eine Strafbarkeit nach §353d des Strafgesetzbuches denkbar, erklärte DSV-Vizepräsident Bertil Jakobson. Der Paragraf richtet sich an Amtsträger und stellt es diesen unter Strafe, die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens ganz oder in wesentlichen Teilen im Wortlaut öffentlich zu machen, bevor sie in der Verhandlung erörtert oder das Verfahren abgeschlossen ist. In konkreten Fall entfalle dies aber, sofern alle Videos bereits in der Hauptverhandlung gezeigt seien.
Laut Jakobson muss aber trotzdem der Beschuldigte geschützt werden. „Er hat Rechte, die unterlaufen werden, wenn solches Material veröffentlicht wird.“ Was noch viel gravierender sei: „Wenn das Video kursiert und Zeugen es gesehen haben, sind sie ein Stück weit beeinflusst. Sie haben einen Eindruck von der Person des Beschuldigten und könnten bewusst oder unbewusst ihre Aussage anpassen.“
„Dass Videos von Vernehmungen ins Netz gestellt werden, ist ein prinzipiell sehr befremdlicher und auch schmerzhafter Vorgang, wenngleich die Videos bereits im Strafprozess vorgeführt wurden“, sagte Dirk Metz, Sprecher der Familie Lübcke, die als Nebenkläger an dem Verfahren teilnimmt. Aus der Sicht der Nebenklage ändere der Vorgang nichts an dem Ziel: „Wir wollen die vollständige Tataufklärung erreichen.“
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