Für die Zukunft seiner Stadt setzt Venedigs Bürgermeister Luigi Brugnaro auf die Vergangenheit - als in der Glanzzeit der See- und Handelsmacht das Herz der Republik Serenissima im Schiffbau schlug. Hier im Arsenal, wie die historische Werft bis heute heißt, fertigten 16 000 Arbeiter zu Kriegszeiten in Serie jeden Tag eine Galeere. Jetzt wirbt die erste Bootsmesse im Becken des Arsenals mit dem Slogan: "Die maritime Handwerkskunst kehrt nach Hause zurück."
"Wir wollen so den Anstoß für das Wiederaufleben unserer Schifffahrtsindustrie geben", verkündet Brugnaro beim Rundgang vor der Eröffnung. So soll Venedig, findet der Bürgermeister, seine gebührende Rolle an der Adria zurückerobern und auf diese Weise die Wirtschaft ankurbeln.
In Zeiten der touristischen Monokultur in der Lagune klingt das zunächst wie eine sonderbare Idee. Denn ausgerechnet Schiffe sind heute die größte Heimsuchung der weltbekannten Stadt. Hunderttausende Kreuzfahrer aus aller Welt dringen in die Kanäle ein und blicken dann von den Decks der schwimmenden Vergnügungspötte direkt auf den Markusdom und den Dogenpalast herab, während deren Abgase die Luft verpesten. Die Kollision des 275 Meter langen Kreuzfahrtschiffs MSC Opera mit einem Flussdampfer vor drei Wochen hat die Debatte über die Paradefahrt vor dem Markusplatz neu entfacht. Venedig schrammte knapp an einer Katastrophe vorbei, als das Ungetüm im Giudecca-Kanal auf eine Anlegestelle donnerte.
53 800 Einwohner werden täglich von 77 000 Touristen überrannt
Doch Brugnaros Pläne sehen so aus: Er möchte den Schiffsbau wieder zum Wirtschaftsmotor machen, setzt dabei aber auf Freizeitboote und klimafreundliche hybride Lagunentransportmittel. Den Kreuzfahrttourismus will er einhegen, aber nicht verbannen. Leicht wird das nicht, die Beharrungskräfte in der Bevölkerung sind enorm, und die Regierung in Rom blockiert eine Lösung.
Am Kai des Arsenals sind 80 Boote vertäut, von der Luxusyacht bis zum zukunftweisenden Elektroboot für den Lagunenverkehr. In den restaurierten Werfthallen sind noch bis Sonntag historische Gondeln und innovative Prototypen zu sehen. Besucher dürfen sogar im eigenen Boot vorbeikommen. Mit der Faszination des Arsenals kann es keine Messe der Welt aufnehmen.
Doch verglichen mit Venedigs glanzvoller Vergangenheit ist die Gegenwart niederschmetternd. "Der traditionelle Bootsbau leidet schrecklich", sagt Gianni De Checchi, Chef der venezianischen Handwerker. Waren 1976 noch 36 Hersteller in der Lagune aktiv, sind es heute bestenfalls zehn. Die Fachschule für Bootsbauer machte 2011 dicht. Den anderen traditionellen Wirtschaftszweigen geht es kaum besser. Venedig schöpft seinen Wohlstand im Wesentlichen aus dem Reibach mit der Invasion von Kurzbesuchern, es hat den zweifelhaften Ruf der Selfie-Hauptstadt.
Dazu macht die Insellage den Erhalt einer gesunden Wirtschaftsstruktur fast unmöglich. So lebt das falsche Venedig nun von der Vermarktung seiner glorreichen Vergangenheit. Die noch ausharrenden 53 800 Einwohner werden täglich von 77 000 Touristen überrannt. Sie müssen von Waren und Dienstleistungen leben, die auf Besucherbedürfnisse zugeschnitten sind. Um dem Teufelskreis zu entrinnen, gibt es keine Patentrezepte. Denn die meisten Venezianer haben die Besucher als Einkommensquelle erschlossen und wollen keine Abstriche. "Warum sollten wir die Bedeutung des Tourismus zurückstutzen?", fragt auch Bürgermeister Brugnaro. Er möchte den Markt regulieren und so den unkontrollierten Andrang in Griff bekommen. Er wolle "ein neues Tourismus-Modell" entwickeln, sagt er.
"Meine Freunde suchen sich bequemere Jobs und vermieten lieber ihre geerbten Wohnungen an Touristen"
Giovanni Giusti ist einer der letzten fünf Steinhauer von Venedig. Am Bau der Kirche Santa Maria della Salute waren einst 15 000 Maurer beschäftigt, erzählt er. Giusti kann seinen Stammbaum bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Sein Sohn Jacopo trat in die Fußstapfen des Vaters. Er ist eine Ausnahme. "Meine Freunde suchen sich bequemere Jobs und vermieten lieber ihre geerbten Wohnungen an Touristen", sagt der 27-Jährige. Er betrachtet die B&B-Unterkünfte als die größte Erniedrigung Venedigs. "Unsere Werte existieren nicht mehr, es zählt nur noch das Geld", sagt der junge Steinhauer.
Vor dem Verschwinden des echten Venedigs kann auch der Bürgermeister nicht die Augen verschließen. Der Tag hat für ihn früh begonnen. Morgens um acht wartet sein privates Motorboot am Anleger Tre Ponti im äußersten Westen auf ihn. Brugnaro ist ein Festlandvenezianer, was ihn den stolzen Bewohnern der Lagune suspekt macht. Sein Vater war Gewerkschafter in der Petrochemie in Porto Marghera. 2015 hat der parteilose Unternehmer die Linke aus dem Amt gejagt und Venedigs Rathaus Ca' Farsetti an der Rialtobrücke als Anführer einer Mitte-rechts-Koalition erobert. Das von ihm gegründete Zeitarbeitsunternehmen Umana gab er an einen Treuhänder ab. Das Amt des Bürgermeister übt er unentgeltlich aus.
Sein erster Termin ist die Trauermesse in der Pfarrkirche San Martino auf der Insel Burano, weit draußen in der Lagune. Im Alter von 103 Jahren ist dort die Spitzenstickerin Emma Vidal gestorben. Mit ihren "goldenen Händen" ist sie die Symbolfigur einer untergehenden Handwerkstradition. Der Bürgermeister versichert den noch aktiven Mitstreiterinnen, dass man für das Überleben der alten venezianischen Kunst sorgen werde. Die Stadt setzt sich dafür ein, dass die aufwendige Nadelspitzentechnik Reticella von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wird. Aber nützt das etwas? Das begehrte Label sei in der Ära des Massentourismus ein Todesurteil, behauptet der Publizist Marco D'Eramo in der Streitschrift "Die Welt im Selfie". Das Etikett fixiere einen Zustand und entziehe ihn so dem Wandel.
Brugnaro hängt die seit Jahrzehnten in der Stadt gepflegte Untergangsrhetorik zum Hals raus. Er tritt als Macher auf; als zupackender Mann, der konkrete Lösungen erzwingen will. Seine Gegner stempeln ihn als "Trump der Lagune" ab, der die Stadt mit Tweets regiere. An Bord eines eleganten Mahagoniboots macht er seinem Ärger Luft. Die Holzpfähle zur Begrenzung der Fahrrinnen sind vom Salzwasser und vom heftigen Wellengang der viel befahrenen Lagune zerfressen. Als Treibgut stellen sie eine Gefahr dar. "Ich habe 100 Millionen Euro in der Kasse und kann nichts tun", schimpft Brugnaro. Schuld daran seien Rom und der Stillstand des Landes. Der zuständige Infrastrukturminister Danilo Toninelli sperre sich gegen jegliche Entscheidungen und blockiere die dringenden Arbeiten. Außerdem enthalte sein Ministerium Venedig 270 Millionen Euro längst bewilligter Investitionen vor.
Mit der neuen Messe möchte Brugnaro den lukrativen Bootstourismus anziehen. "Venedigs Berufung ist seine Vermählung mit dem Meer", sagt er. Das ist seit neun Jahrhunderten so. An Christi Himmelfahrt feiern die Venezianer die Hochzeit mit einer Schiffsprozession zum Lido. Dort wirft der Bürgermeister einen goldenen Ring ins Wasser, um Venedigs Herrschaft über die Adria symbolisch zu bekräftigen.
Für die Stadt steht einiges auf dem Spiel, auch der Status als Weltkulturerbe
Brugnaro denkt im Traum nicht daran, auf das Kreuzfahrtgeschäft zu verzichten. Von durchreisenden Schiffen profitiere die Stadt zwar wenig. Doch Venedig sei ein Heimathafen, in der die Urlauber ihre Reise antreten und die Schiffe neu beladen werden. Von den knapp 1,6 Millionen Kreuzfahrern war Venedig 2018 nur für 240 000 ein Transithafen. Insgesamt soll die Kreuzfahrt jährlich 155 Millionen Euro in Venedigs Kassen bringen.
Der Bürgermeister hält darum an einer Lösung fest, die 2017 von den Vorgängern der regierenden Populisten beschlossen wurde. Der Plan verwehrt den Schiffen die Vorbeifahrt an der Altstadt und verbannt sie in einen Kanal entlang des Festlands, der seit den Fünfzigerjahren von Öltankern genutzt wird. Damit die Urlaubsschiffe weiterhin das Kreuzfahrtterminal erreichen können, muss ein Stichkanal vertieft werden. Dieses Vorhaben wird seit einem Jahr von Infrastrukturminister Toninelli blockiert. Er will die Lagune ganz sperren.
Für Venedig steht viel auf dem Spiel. 2016 drohte die Unesco, die Stadt auf die Rote Liste des gefährdeten Welterbes zu setzen. Brugnaro einigte sich mit der Organisation in Paris auf ein Programm, das die Stadt vor den Schäden des "Overtourism" schützen soll. Dazu gehört, Eintrittsgeld für Tagestouristen einzuführen und Kreuzfahrtschiffe umzuleiten. Nun droht der Bürgermeister der Koalition in Rom: "Wir werden der Unesco raten, Venedig auf die Liste der gefährdeten Kulturgüter zu setzen." Er traue, klagt Brugnaro, seiner Regierung nun selbst nicht mehr.