Martin Winterkorn:Langer Schatten

Die Anklage gegen den Ex-Chef wirkt sich auf die Konzern­finanzen aus - und auf die Laune des Nachfolgers.

Von Max Hägler, Klaus Ott und Angelika Slavik, München/Hamburg

Volkswagen Senior Directors Meet For Crisis Talks As Emissions Scandal Widens

Miese Stimmung in Wolfsburg: Konzernchef Diess will VW auf grün trimmen. Und worüber reden alle? Über seinen Vor-Vorgänger Martin Winterkorn.

(Foto: Alexander Koerner/Getty)

Als Martin Winterkorn ganz oben war, an der Spitze von Volkswagen und am Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Anerkennung, da gefiel er sich in der Rolle des strengen Patriarchen. Winterkorn war laut und blaffte Mitarbeiter in der Öffentlichkeit an, was er offenbar für ein Zeichen von Stärke hielt. Das ist längst Vergangenheit. Jetzt muss sich Wiko, wie er bei VW genannt wurde, sogar auf einen Prozess einstellen, der mit einer Haftstrafe enden könnte.

Die Braunschweiger Staatsanwaltschaft hat in der Abgasaffäre Anklage wegen Betrugsverdacht und weiterer Vorwürfe erhoben. Dass es zu einem Prozess kommt, ist wahrscheinlich. Das hat auch Konsequenzen für den Konzern, den Winterkorn einst geleitet hat. Viele Konsequenzen.

78 Milliarden Euro Schaden für die Kunden? Diese Zahl ist mit Vorsicht zu genießen

Tausende Aktionäre und Hunderttausende Autokäufer verlangen wegen der Abgasaffäre Schadenersatz von Volkswagen. VW habe, so hat es die Staatsanwaltschaft öffentlich verkündet, rund neun Millionen Diesel-Fahrzeuge "wahrheitswidrig" als besonders umweltfreundlich verkauft. Die Ermittler haben nach Informationen von SZ, NDR und WDR sogar ausgerechnet, welcher Schaden dadurch bei den Kunden entstanden sei: knapp 78 Milliarden Euro. So steht es in der 39-seitigen Anklageschrift gegen Winterkorn und dessen vier Mitbeschuldigte. Diese Zahl wiederum hat die Staatsanwaltschaft in ihrer Pressemitteilung vom Montag, mit der die Anklage bekannt gegeben worden war, nicht erwähnt. Das musste die Strafverfolgungsbehörde auch nicht tun.

78 Milliarden Euro, das klingt nach einer horrenden Summe. Das klingt nach immensen neuen Belastungen für VW, nachdem die Abgasaffäre den Autokonzern bereits fast 30 Milliarden Euro gekostet hat, vor allem in den USA. Doch die Summe, die in der Anklageschrift steht, ist mit Vorsicht zu genießen. Die Ermittler nehmen offenbar an, die betreffenden Diesel-Fahrzeuge hätten allenfalls zu 60 Prozent ihres ursprünglichen Wertes weiterverkauft werden können; in den USA wäre überhaupt kein Weiterverkauf möglich gewesen. Im September 2016, ein Jahr nach Beginn der Affäre, war das Landeskriminalamt (LKA) Niedersachsen in einem Zwischenbericht zur Schadensberechnung sogar zu einem noch viel höheren Ergebnis gekommen. In den 28 Staaten der Europäischen Union, der Schweiz, Norwegen und den USA sei ein vorläufiger Schaden von fast 170 Milliarden Euro festzustellen. Das LKA in Hannover arbeitet der Staatsanwaltschaft in Braunschweig zu.

Erst knapp 170 Milliarden Euro, jetzt immerhin fast 100 Milliarden Euro weniger, das alleine zeigt schon, wie ungenau solche Berechnungen sind. Und am anderen Ende der Skala steht die Auffassung von Volkswagen, in Europa sei überhaupt kein Schaden entstanden. Weil man die Dieselautos ja in Ordnung gebracht habe. Natürlich werden sich die Anwälte von Autokunden und Aktionären auf die 78 Milliarden Euro stürzen, natürlich wird VW dagegen halten. Es wird noch viele und lange Prozesse geben, bis das alles ausgestritten ist. Und wohl einen Prozess, in dem alles zusammenkommt: das absehbare Verfahren gegen Winterkorn.

Als die Anklage in China am Montagabend Ortszeit publik wird, feiert Volkswagen dort neue Automodelle. Es ist der Vorabend der Autoshow in Shanghai, eigentlich will der Konzern hier glänzen, aber dann macht der lange Schatten des Alten alles kaputt. Die Nachricht von Winterkorns Anklage ist das Thema Nummer eins. Die große Show? Nur noch ein Nebenaspekt. Genau das fürchten sie bei VW auch am Tag nach dem großen Knall: Dass jetzt alle wieder nur über den Dieselbetrug sprechen. Der Konzernchef Herbert Diess sei verärgert, heißt es. Er treibt VW zu einem riesigen Umbruch hin zur Elektromobilität, dreht den ganzen Laden um, startet just am Montag auch noch mit Moia in Hamburg, diesem neuen Shuttledienst, der Volkswagens erster Schritt zu neuen Mobilitätskonzepten sein soll. Aber worüber reden alle? Über Winterkorn und über den ihm vorgeworfenen Betrug. Wobei Wiko von den Ermittlern nur für den allerkleinsten Teil der in knapp zehn Jahren mutmaßlich neun Millionen manipulierten Fahrzeuge verantwortlich gemacht wird. Ihm werden, weil er spät von der betreffenden Software erfahren habe, nur 65 000 Autos angelastet. Für eine Anklage reicht das aber allemal.

Zwei der vier anderen Angeschuldigten sollen für alle neun Millionen Fahrzeuge zur Rechenschaft gezogen werden. Den beiden, und nicht Volkswagen, wird auch die angebliche Schadensumme von 78 Milliarden Euro vorgehalten. Das Verfahren gegen den Konzern hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig schon Mitte vergangenen Jahres beendet, gegen Zahlung von einer Milliarde Euro Bußgeld.

Einlenken? Vergleiche schließen? Die Wolfsburger Konzernspitze denkt gar nicht daran

Doch eines ist bereits klar: Ein Winterkorn-Prozess wäre - nicht formal, aber inhaltlich - auch ein Volkswagen-Prozess. Wiko steht für Volkswagen. Und VW weiß genau, dass gegnerische Anwälte versuchen würden, aus einem solchen Verfahren Erkenntnisse zu gewinnen für die Schadenersatzklagen von Autokunden und Aktionären. Da geht es letztlich um viele Milliarden Euro.

Volkswagen könnte einlenken, könnte Vergleiche abschließen, wie das jetzt erste Anwälte fordern. Doch die Konzernspitze denkt gar nicht daran. "Den Kunden ist kein Schaden entstanden, da alle Autos im Verkehr genutzt werden können und sicher sind. Nach wie vor werden sie von hunderttausenden Kunden täglich gefahren. Die Fahrzeuge können auch weiterhin verkauft werden. Alle erforderlichen Genehmigungen liegen vor", erklärte der Konzern am Dienstag, nachdem die Winterkorn-Anklage öffentlich wurde. Für Kunden-Klagen gebe es "keine Rechtsgrundlage". Auch bei den Aktionären, die Kursverluste ihrer Papiere infolge der Abgasaffäre ersetzt bekommen wollen, bleibt der Konzern hart.

Am Ende dürfte alles, weil niemand so recht nachgeben mag, wohl der Bundesgerichtshof (BGH) entscheiden. Irgendwann in den nächsten Jahren. Es könnte gut sein, dass - nach einem wohl langen Prozess in Braunschweig - erst dort auch über Winterkorns Wohl und Wehe entschieden wird.

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