Marketing von Atlético Madrid:"Mit wem würden Sie lieber ein Bier trinken?"

Atletico Madrid

Die Eltern der Atlético-Werbekampagne: Marta Rico und Miguel G. Vizcaíno, Kreativdirektoren der Werbeagentur Señora Rushmore.

(Foto: Lukac)

Klub der coolen Videos: Champions-League-Finalist Atlético Madrid hat sich durch kluges Marketing als sympathischere Alternative zu Real und Barça etabliert. Dahinter stecken Marta Rico und Miguel G. Vizcaíno. Im Interview verrät das Paar seine Taktik.

Von Katarina Lukač, Madrid

Atlético Madrid ist spanischer Fußballmeister und gilt als sympathischere Alternative zu den Fußballriesen Real Madrid und FC Barcelona. Das war nicht immer so. Dass aus dem einstigen Zweitliga-Club eine schillernde Fußballmarke wurde, liegt auch auch an der Arbeit des Ehepaars Marta Rico und Miguel G. Vizcaíno. Die Kreativchefs der Madrider Werbeagentur Señora Rushmore lassen sich Werbespots einfallen, die in Spanien Kult sind und Atlético zu einem Imagewandel verholfen haben, der den Klub bei vielen Spaniern zum Sympathieträger gemacht hat - obwohl die Beziehungen des Vereins zum Sponsor Aserbaidschan umstritten sind.

Die Werbefilme (hier alle Spots) erschließen sich auch ohne Spanisch-Kenntnisse. Sie heben ab auf das Lebensgefühl von "Atleti", wie die Anhänger den Club nennen, zeigen vor allem die Fans und nicht die Fußballstars.

Die Zusammenarbeit zwischen Señora Rushmore und Atlético begann vor fast 15 Jahren, als die Agentur gerade erst entstanden und der Club gerade in die Zweite Liga abgerutscht war. An diesem Samstag steht Atlético im Finale der Champions League, und Señora Rushmore gehört mit Kunden wie Coca Cola, Vodafone und der ING-Bank zu den wichtigsten Agenturen des Landes. In einer Umfrage wählten die spanischen Branchenkollegen Señora Rushmore zum zweiten Mal in Folge auf Platz eins der begehrtesten Arbeitgeber.

Wir haben die Kreativdirektoren Marta Rico, 48, und Miguel G. Vizcaíno, 49, in Ihrem Büro in der Madrider Innenstadt getroffen, ein paar Tage bevor Atlético im Kampf gegen den FC Barcelona den Meistertitel der spanischen Liga gewann.

Süddeutsche.de: In Spanien und Lateinamerika liebt das Publikum Ihre Atlético-Filme, weil sie die Kunst zu verlieren selbstironisch darstellen. Müssen Sie wegen Atléticos Erfolgskurs Ihre Underdog-Taktik über den Haufen werfen?

Miguel G. Vizcaíno: Atleti ist und bleibt ein volksnaher Club. Jeden Sieg muss sich das Team 100 Mal härter erkämpfen als Real Madrid, das über ein fünf Mal höheres Budget verfügt. Auch Barça würde, wenn man sich die einzelnen Positionen in der Mannschaft ansieht, keinen einzigen ihrer Spieler gegen einen von Atlético tauschen. Doch Atlético hat gezeigt, dass man mit bestimmten Tugenden überlegene Gegner schlagen kann: Leidensfähigkeit, Durchhaltevermögen, Haltung auch in schlechten Zeiten. Diese Werte haben wir in unseren Werbefilmen immer in den Vordergrund gerückt; für uns war Atlético nie ein Verlierer. Es sind dieselben Tugenden, die wir unseren Kindern einimpfen.

Ganz schön viel Loyalität einem Kunden gegenüber.

Marta Rico: Die Atlético-Kampagne ist mehr als nur ein Job, ohne den Club gäbe es unsere Agentur heute womöglich nicht. Als wir im Jahr 2000 BBDO (eine multinationale Werbeagentur, Anm. d. Red.) verließen, um uns selbstständig zu machen, gab Atlético uns den allerersten Auftrag. Der Club war gerade in die zweite Liga abgerutscht, und uns hatten alle in der Branche für verrückt erklärt, weil wir die Agentur Señora Rushmore nannten, nach einer alten Dame aus einem unserer Pepsi-Spots aus BBDO-Zeiten. Damals setzten sich die Agenturnamen üblicherweise aus den Namen ihrer Gründer zusammen, aber unsere spanischen Allerwelts-Nachnamen hätten wie eine Spedition geklungen.

Ihr erstes Werbevideo für Atlético wurde prompt ein Erfolg. Darin bringt ein Junge seinen Vater mit der Frage in Verlegenheit: "Papa, warum sind wir eigentlich für Atleti?" Der Satz ist zum geflügelten Wort geworden...

Rico: ...und stammt direkt aus dem Mund unserer Tochter Ana. Wir holten sie mit dem Auto von der Grundschule ab, Atleti spielte mal wieder eine miserable Saison und Ana gehörte zu den wenigen Fans unter ihren Schulkameraden. Sie muss sich gefragt haben: Wenn der Fußballclub schon zu den wenigen Dingen im Leben gehört, die man sich aussuchen kann, warum haben wir dann die schlechtere Mannschaft erwischt?

Vizcaíno: Damals triumphierten bei Real Madrid gerade die Galácticos wie Figo, Zidane und später Beckham. Atlético-Anhänger wie unsere Kinder standen vor ihren Schulkameraden wie die letzten Deppen da. Mir verschlug die Frage meiner Tochter buchstäblich die Sprache: wie sollte ich ein Lebensgefühl in Worte fassen? Wir haben das dann eins zu eins in den Spot übernommen, der mit der Pointe endet: "Es ist nicht einfach zu erklären. Aber es ist etwas ganz, ganz Großes." Die Reaktionen des Publikums waren überwältigend, so viele Menschen kamen auf uns zu, weil sie sich als Atlético-Fans - oft unbewusst - in derselben Situation wiedergefunden hatten. Wenn Ihnen in unserer Branche eine derartige Komplizenschaft und Identifikation mit dem Produkt gelingt, ein so genanntes Insight, ist das fantastisch; dann halten Sie ein Schmuckstück in den Händen.

"Entscheidend ist die Einstellung"

Eine Änderung haben Sie bei der Verwandlung zum Spot doch vorgenommen: Im Film spricht ein Sohn mit seinem Vater, so wie die Mehrheit der Videos von männlichen Helden bevölkert wird. Hätte das Publikum kein Mädchen verkraftet?

Rico: Wir haben auch schon weiblichen Atlético-Fans ein Denkmal gesetzt. Haben Sie unser Video zum letzten Muttertag gesehen?

Darin taucht die Frau nur in der Rolle der sorgenden Mutter eines späteren, mutmaßlich männlichen Atlético-Fans auf. In den 15 Werbefilmen habe ich keine eigenständige weibliche Figur gefunden.

Rico: In der Werbung ist das schwierig, weil wir mit Archetypen arbeiten, und im Fußball ist das klassischerweise der männliche Fan. Wenn Sie 20 Sekunden haben, um eine Geschichte zu erzählen, muss die Botschaft eindeutig sein - und dem Zuschauer dürfen keine Fragen dazwischenfunken, etwa die, ob sich das fragende Mädchen womöglich gar nicht mit Fußball auskennt. Da funktioniert die klassische Vater-Sohn-Konstellation besser. Dafür wurde unser Sohn Max im Kleinkindalter, als wir ihn für einen späteren Atlético-Spot beim Spielen am Strand filmten, wegen seiner langen Haare immer für ein Mädchen gehalten - bloß weil er einen Dutt hatte. Wir hatten ihm die Haare hippiemäßig richtig lang wachsen lassen.

In Ihren Atlético-Filmen spielen Kinder, Rentner, Arbeitslose die Hauptrollen. Reizt es sie nicht, die Stars des Clubs in Szene zu setzen - zumal sich aus der Visage des immer schwarz gekleideten Trainers Diego Simeone alias el Cholo einiges machen ließe?

Vizcaíno: Für uns ist es reizvoller, um die Ecke zu denken und etwas über das Leben an sich zu erzählen, statt nur ein Produkt darzustellen, und sei es eine Fußballmannschaft. Wir zeigen, wie sich die Tugenden des Clubs im wahren Leben widerspiegeln. Zum Beispiel in jenem Spot mit einem Arbeitslosen mittleren Alters beim Vorstellungsgespräch. Als ein smarter junger Bewerber den Warteraum betritt und geschäftig seinen Laptop aufklappt, verlassen die weiteren älteren Mitbewerber resigniert den Raum. Unser Held und Atlético-Fan bleibt dagegen sitzen.

Rico: Wir blenden das Ende aus, es ist unerheblich, ob er den Job bekommt oder nicht. Entscheidend ist, dass er nicht aufgibt und sich dem Kampf stellt, zu diesem Spiel antritt. Es geht um die Einstellung.

Neben der Wirtschaftskrise und dem Kosovo-Krieg haben Sie für Atlético ein anderes, bis heute in Spanien politisch sensibles Thema aufgegriffen: den Spanischen Bürgerkrieg. In dem Spot lässt ein republikanischer Soldat einen gefangengenommenen Franquisten laufen, nachdem sich herausstellt, dass beide Atlético-Fans sind.

Vizcaíno: Mit jeder anderen kommerziellen Marke, Coca Cola etwa oder einer Bank, wäre dieses Risiko unmöglich gewesen. Doch Emilio Gutiérrez, Marketingchef von Atlético, hatte von Anfang an ein klares Ziel: Er wollte keine Kampagne, um neue Clubmitglieder anzuwerben, sondern um die Marke und das Lebensgefühl von Atlético bekannt zu machen. In dem Spot verabschieden sich die Kämpfer mit jeweiligem Gruß - einer mit ausgestrecktem Faschisten-Arm, der andere mit sozialistischer Faust -, jedoch mit demselben Schlachtruf "Aupa Atleti". Wir befürchteten, dass die Handgesten, die nicht im Drehbuch standen, zu weit gehen könnten. Doch Gutièrrez bestand darauf. Später haben uns viele Leute erzählt, dass ihre Großväter im Krieg ähnliche Szenen unter Fußballfans erlebt hätten - natürlich nicht nur Atlético-Anhänger.

Was hat Atlético davon, eine breite Masse zu erreichen, in der sich viele womöglich gar nicht für Fußball interessieren?

Vizcaíno: Für uns ist es das Größte, wenn Fußball-Desinteressierte uns zu unserer Arbeit gratulieren, weil sie sie trotzdem angesehen haben. Für den Club bedeutet eine bekannte, sympathische Marke wirtschaftlichen Gewinn, weil er Sponsorenverträge wie zuletzt mit Coca Cola an Land ziehen kann. Die großen Clubs wie Barça und Real Madrid, die natürlich viel stärkere Marken sind, haben ein Problem: sie generieren genauso viel Abneigung wie Bewunderung. Als der Haushaltsgerätehersteller Zanussi vor Jahren Real Madrid sponsorte, gingen die Verkaufszahlen in Katalonien in den Keller.

Krokodile, Tränen und Kämpfernaturen

Gabi

Atlético-Star Gabi feiert in Madrid den Gewinn der spanischen Fußballmeisterschaft.

(Foto: AP)

Wie kommt es, dass Atlético angeblich kaum in Werbung investiert, Ihr aktueller Spot aber trotzdem dauernd im spanischen Fernsehen läuft?

Rico: Tatsächlich stand bei Atlético bislang kaum Budget für Werbung zur Verfügung. Wir arbeiten bis zum heutigen Tag lediglich kostendeckend für Atlético, und setzten zur Verbreitung von Anfang an auf soziale Netzwerke. Laufen wir doch mal im Fernsehen, dann weil ein anderer Kunde, der mit Atlético kooperiert - wie Coca Cola - einen Teil seiner gekauften Sendezeit an den Club abtritt. Oder weil unser neuer Spot ein Thema in den Nachrichten ist.

Reizt es Sie, einmal im Auftrag der großen Clubs Superstars aus der ganzen Welt zusammenzutrommeln und ein Riesenbudget auf den Kopf zu hauen?

Vizcaíno: Das ist nicht unser Stil. Für unseren Spot zum Wiedereinzug in die Primera División 2002 nach zwei Jahren in der zweiten Liga hatten wir den Plan, ein Spiel unserer Mannschaft in der Kanalisation inszenieren, mit Krokodilen als Gegner. Dafür hätten wir ein Budget auf Nike-Niveau gebraucht. Also kondensierten wir die Idee zu einer Szene, die drei Peseten kostete: Torwart Germán Burgos schaut mitten auf dem Boulevard Gran Vía aus einem Gullischacht hervor, während aus dem Untergrund Spielgeräusche aufsteigen, gefolgt vom Slogan: "Wir sind jetzt da."

Rico: Das Resultat ist viel besser als die ursprüngliche Idee. Ich kriege beim Gucken heute noch Gänsehaut. Vor allem, wenn ich mich daran erinnere, wie emotional die Rückkehr in die Erste Liga war.

Zielgruppenbefragungen unter Atlético-Fans können Sie sich offenbar sparen.

Vizcaíno: Stimmt, wir sind durch und durch Atléticos. Ich gehörte quasi schon vor meiner Geburt zu Atleti. Mein Vater kam damals vom Dorf in die Stadt...

Rico: ... er kam zu seinem Onkel in die Stadt, der leidenschaftlicher Atlético-Anhänger war, da führte eins zum anderen.

Vizcaíno: Beim Thema Atleti brechen wir oft in Tränen aus, das ist nicht einstudiert. Wenn wir an den Kampagnen arbeiten, sitzen wir oft beide weinend da.

Ich gestehe, dass ich ein raueres Arbeitsklima erwartet hatte, in etwa nach Mad Men-Vorbild.

Rico: Wir machen unser eigenes Ding. Das fängt schon bei unserem Büro an, das nicht minimalistisch, sondern gemütlich eingerichtet ist, wie die Wohnung einer schrulligen alten Dame - Señora Rushmore eben. In unseren Kampagnen setzen wir mehr auf Gefühl als auf Gehirn.

Sie sind seit 25 Jahren ein Paar, teilen sich sogar ein- und denselben Schreibtisch. Wie kommt man da auf Ideen?

Vizcaíno: Manchmal brauchen wir nur aus dem Fenster zu schauen. Auf der Gran Vía, an der unser Büro liegt, sind uns zum Beispiel die vielen Einwanderer aufgefallen, die mit Atlético-Fanshirt zur Arbeit gehen. Wieder stellten wir uns die Frage: Warum suchen sich diese Leute, die so viel durchgemacht haben, Atlético aus und nicht Real Madrid, mit dem sie es so viel einfacher hätten? Weil sie Kämpfernaturen sind. Also haben wir einen Ecuadorianer zum Protagonisten eines unserer Spots gemacht. Die Mehrheit der lateinamerikanischen Einwanderer in Madrid fühlt sich zu Atlético hingezogen, weil unsere Passion für den Club der lateinamerikanischen Fankultur näherkommt.

Der Furor mancher Fans trägt fast schon religiöse Züge.

Rico: Die hässlichen Seiten des Geschäfts - und im Fußball gibt es einen Haufen Scheiße - laufen in einer Parallelwelt ab. Es bleibt immer diese Blase des eigenen, reinen Gefühls, und das treibt einen dazu, dranzubleiben.

Vizcaíno: Der Fußball ist für viele Leute, nicht nur für Atlético-Fans, ein Religionseratz. Du weißt, dass es absurd ist, für diese Millionäre, die auf dem Platz stehen, zu leiden. Aber es ist, wie die Liebe, keine rationale Entscheidung.

Rico: In unserem Fall kommt hinzu, dass wir Null religiös sind und andere Dinge diesen Raum einnehmen. So wie es momentan um die Institutionen in unserem Land steht, scheint alles Solide vergangen zu sein, wie der Schriftsteller Antonio Muñoz Molina einmal schrieb. Wenn wir nicht zu Atlético gehörten, würden wir nirgendwo mehr hingehören.

Können auch reservierte Nordeuropäer, die sich in ihrem Leben vielleicht gar nichts besonders hart erkämpfen mussten und die am Samstag vor dem Fernseher sitzen werden, "es in sich tragen", wie es in einer Ihrer Kampagnen über den Geist von Atlético heißt?

Vizcaíno: Aber ja doch! Jeder hat in seinem Leben Kämpfe auszufechten. Das Champions-League-Finale funktioniert ähnlich wie der Road-Runner-Zeichentrickfilm: Mit wem würden Sie lieber ein Bier trinken, dem neunmalklugen Roadrunner oder dem Kojoten? Der Kojote ist die interessantere Persönlichkeit. Der Roadrunner ist ein Idiot!

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