Süddeutsche Zeitung

Wechsel an der EZB-Spitze:Kämpfer gegen alle Widerstände

Lesezeit: 4 min

Von Markus Zydra, Frankfurt

Mario Draghi greift ins Regal und zieht aus einem Stapel ein Foto hervor. Es zeigt ihn zusammen mit dem früheren Bundesbankchef Hans Tietmeyer. Der neue Präsident der Europäischen Zentralbank wirkt, als wolle er mit dem Foto seine tiefe Sympathie für die Bundesbank unterstreichen. Draghi trägt damals noch seine markante rundliche Brille. Er ist an diesem Tag im März 2012 erst einige Monate im Amt und wundert sich über einen Brief von Jens Weidmann, dessen Inhalt an die Öffentlichkeit gelangt war. Darin warnte der Bundesbankpräsident vor den Risiken der lockeren Geldpolitik. "Anrufen" habe Weidmann doch können, meint Draghi und erzählt, wie die Bundesbank ihre Geldpolitik früher gegen viel Kritik durchgezogen habe. Jetzt müsse auch die EZB einen mutigen, vielleicht unpopulären Weg gehen. Doch er spüre "Angst" in Deutschland.

Draghi, der Ende dieses Monats, nach acht Jahren im Amt, seinen Posten an die Französin Christine Lagarde abgibt, mag damals klar geworden sein: Es wird nicht leicht werden zwischen ihm und den Deutschen. Schon vor seiner Berufung grassierte Misstrauen gegen den ehrgeizigen Ökonomen, der in den 1970er-Jahren mit fünf späteren Nobelpreisträgern an der renommierten amerikanischen Universität MIT studiert und später unter anderem als Investmentbanker bei Goldman Sachs gearbeitet hatte. Außerdem war er Italiener, was in den Augen einiger schon allein Grund genug war, ihn abzulehnen. Doch der Mann aus Rom wollte den Posten unbedingt. Er traute sich zu, den Euro zu retten.

Christine Lagarde, die am Freitag von den EU-Staats- und Regierungschefs offiziell zur neuen EZB-Präsidentin ernannt wurde, übernimmt wegen Draghis lockerer Geldpolitik ein schweres Erbe. Der Leitzins liegt bei null Prozent, das Volumen der Anleihekäufe beträgt fast drei Billionen Euro. Den Negativzins auf Bankeinlagen, mit dem deutsche Sparer hadern, hat Draghi im September sogar noch auf 0,5 Prozent erhöht. Es wirkt bizarr: Europas Wirtschaft wächst und die EZB steckt im Panikmodus. Das versteht in der deutschen Bevölkerung kaum noch jemand.

Der Clinch mit deutschen Politikern, Ökonomen, Bankern und Währungshütern prägte Draghis Amtszeit. Es ging ruppig zu. So gab es den Vorwurf, Draghi, der "Falschmünzer" wolle "seinen" Italienern auf Kosten der Deutschen helfen. Der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) giftete, Draghis Geldpolitik sei für den Erfolg der AfD mitverantwortlich. Der EZB-Präsident retournierte, Deutschland solle nicht immer "Nein zu allem" sagen, das sei keine Lösung.

Draghi musste früh lernen, Verantwortung zu übernehmen, auch für die jüngeren Geschwister. Die Eltern starben, als er 15 Jahre alt war. Sein Vater sprach sehr gut Deutsch, überhaupt sei die Familie von der deutschen Kultur und dem europäischen Gedanken geprägt gewesen, erzählt er. Das Erbe der Eltern ging durch die hohe Inflation in Italien fast vollständig verloren. Diese Erfahrung machte ihn sensibel für die Furcht der Deutschen vor Geldentwertung. Die Schulzeit verbrachte er in einer Jesuitenschule. Dort brachten ihm die Geistlichen einerseits Demut bei, gaben ihm andererseits aber auch mit auf den Weg, sich stets treu zu bleiben. Seine Erfahrungen aus der Studienzeit in den USA bestärkten ihn, dass die EZB ihre Probleme pragmatisch lösen müsste - wenn nötig, auch gegen den Willen der Deutschen.

Dem Gewissen folgen, lautet der Draghi-Code. Man dürfe nicht ständig fragen: Was wäre wenn? Die Tatsache, dass er eine exzellente Ausbildung und viel Erfahrung mitbrachte aus dem Finanzministerium, der Kreditwirtschaft, der Notenbank und der akademischen Welt, überforderte einige Kritiker intellektuell. Auch Gegner räumen ein, er sei ein brillanter Kopf.

Eine Rede, die Geschichte machte

Mit seiner "Whatever it takes-Rede" in London 2012, mit der er jenen, die gegen den Euro spekulierten, den Kampf ansagte, ging Draghi als Retter der Euro-Zone in die Geschichte ein. Die Wortwahl war seine Idee, er hatte sie aber nicht mit den Kollegen in der EZB abgesprochen. Draghi galt als Held, sein entschlossenes Gesicht kam auf die Titelseiten. Vielleicht verführte ihn der plötzliche Ruhm sogar ein wenig zu Übermut, denn er kultivierte fortan seine Alleingänge. Immer wieder kündigte Draghi in Reden wichtige geldpolitische Maßnahmen an, ohne sie mit den Kollegen im EZB-Rat konkret besprochen zu haben. Diese Guerillataktik setzte die Kollegen unter Druck. Sie fühlten sich fast gezwungen, später der Entscheidung zuzustimmen, wollten sie nicht die Reputation der Notenbank aufs Spiel setzen. So autokratisch hatten Draghis Vorgänger in der EZB nicht regiert.

"Draghi konzentriert sich auf Sachen, die ihm wichtig sind und die er gewinnen kann. Den Rest delegiert er", erzählt jemand aus seinem Umfeld. Sein Führungsstil sorgte für Unmut im EZB-Rat und der Belegschaft. Sicher, man bewunderte Draghis Leistung, fühlte sich aber im Lauf der Zeit durch seine Alleingänge immer stärker zurückgesetzt. Noch kurz vor seinem Abschied drückte er erneut eine Lockerung der Geldpolitik im Rat durch, gegen die Empfehlung der eigenen Leute im Haus und gegen die Stimmen vieler Notenbankkollegen.

Small Talk ist seine Sache nicht

Draghi ist diplomatisch versiert, kann sich ausdrücken und macht in großer Runde bella figura. Aber Small Talk ist seine Sache nicht. Persönliches gibt Draghi nicht preis. Man erzählt sich, wie er bei einem Notenbankertreffen in Washington abends keine Lust hatte, mit den Kollegen essen zu gehen. Er setzte sich lieber allein in ein italienisches Lokal, las Zeitung, dachte nach. Das Recht auf Eskapismus gönnte sich Draghi schon als Notenbankchef in Rom. Die Frage: "Wo steckt Draghi?" ist in Italien ein geflügeltes Wort geworden.

Manchmal traf er diskret EU-Regierungschefs und nicht immer informierte er die Kollegen im Direktorium über das, was er erfahren hatte. Draghi hielt sich gern bedeckt. Im obersten Gremium der Notenbank, so hört man, war man sich nie sicher, was er in Sachfragen wirklich dachte. Er mochte keine Gruppendiskussionen und verhandelte die von ihm erdachte Lösung lieber mit jedem der Kollegen allein. Er wusste um seine Überzeugungskraft. Sein Stab verzweifelte, wenn der Chef wichtige Reden in letzter Sekunde handschriftlich änderte. Draghi wollte immer eine Nasenlänge voraus sein. Er habe die Aura eines undurchschaubaren Weisen, erzählen Mitarbeiter. Bei einer Notenbankkonferenz im portugiesischen Sintra trug die Platzkarte an Draghis Dinner-Tisch den Namen "Albert Einstein".

Schwierige Aufgabe für die Nachfolgerin

Nun sagt Europa ciao. Draghi wird am kommenden Donnerstag das letzte Mal als EZB-Chef vor die Presse treten, wenige Tage später folgt das Farewell im EZB-Turm. Immobilienbesitzer und Aktionäre haben von seiner lockeren Geldpolitik mehr profitiert als andere, wobei die Maßnahmen ja auch dafür sorgten, dass es mehr Jobs und höhere Löhne gibt. Der Preis dafür war hoch: Die EZB steht jetzt so gut wie am Ende ihrer Möglichkeiten. Leitzins und Anleihekäufe - Draghi hat fast alle Maßnahmen ausgereizt.

Draghi gelang es, mit wenigen Worten die Euro-Zone zu retten. Die Tragik seiner Amtszeit liegt vielleicht darin, dass er nie die richtigen Worte fand, um die Emanzipation der EZB von der Bundesbank zu moderieren. Das ist nun Aufgabe seiner Nachfolgerin. Der erste EZB-Präsident Wim Duisenberg hatte für die Akzeptanz des Euro gesorgt. Die Nachfolger Jean-Claude Trichet und Draghi bewahrten die Währungsunion vor dem Zerfall. Christine Lagarde könnte jene sein, die die Deutschen wieder mit Europas Notenbank versöhnt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4646039
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.10.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.