Süddeutsche Zeitung

Manipulationen:Erste Anzeige gegen Krankenkassen

  • Nach den vom Chef der Techniker Krankenkasse erhobenen Manipulationsvorwürfen ist nun eine erste Strafanzeige gegen die größte deutsche Kasse eingegangen.
  • Die Staatsanwaltschaft in Hamburg prüft die Vorwürfe nun und könnte gegebenenfalls ein Verfahren einleiten.
  • Derweil bestreiten Ärztevereinigungen, sich systematisch und gezielt an den Mauscheleien beteiligt zu haben, mit den Patienten systematisch kränker diagnostiziert worden sein sollen als nötig.

Von Kim Björn Becker

Nach dem öffentlichen Eingeständnis des Chefs der Techniker Krankenkasse (TK), dass seine und auch andere gesetzliche Kassen sich angeblich systematisch mittels Manipulationen aus dem Gesundheitsfonds bereichert haben, beschäftigen sich bereits die Ermittlungsbehörden mit dem Fall. Am Montag hatte die Deutsche Stiftung Patientenschutz bekannt gegeben, dass sie Strafanzeige gegen die größte deutsche Krankenkasse sowie gegen weitere Kassen erstattet habe. Eine Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft bestätigte am Dienstag, dass eine entsprechende Anzeige eingegangen ist.

Die Ermittler kündigten an, diese zu prüfen. Der Chef der TK, Jens Baas, hatte am Wochenende in einem Zeitungsinterview von Manipulationen gesprochen. Mehrere Kassen, darunter auch seine eigene, würden Ärzte mittels Honorarverträgen dazu bringen, dass sie Versicherte auf dem Papier im Zweifelsfall eher kränker als gesünder aussehen lassen. Dann erhalte die Kasse höhere Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds, der alle Beiträge der gesetzlich Versicherten nach einem komplizierten Muster verteilt. In diesem Zusammenhang hatte der Kassen-Chef mehrere "Ärztevereinigungen" bezichtigt, sich durch den Abschluss von Verträgen an den Manipulationen zu beteiligen. Dabei geht es offenbar um sogenannte Betreuungsstrukturverträge, die jeweils zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) einer Region und einer oder mehreren Krankenkassen geschlossen werden.

Der Süddeutschen Zeitung liegt ein solcher Vertrag vor: Als Ziel wird eine "Erhöhung der Beratungsintensität durch Haus- und Fachärzte" angegeben - so sollen sich Ärzte besonders um ihre Patienten kümmern, wenn diese an einer schweren Erkrankung leiden (nur bei 80 festgelegten schweren Krankheiten gibt es denn auch zusätzliches Geld aus dem Gesundheitsfonds). Um dafür eigens Prämien von bis zu zwölf Euro pro Patient und Termin abrechnen zu können, soll der Arzt unter anderem die Erkrankung des Patienten genau festhalten. Da es für jede Diagnose und jeden Schweregrad einen eigenen Code gibt - im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Optimierung stehen fast 4000 zur Auswahl -, spielt die Wahl der richtigen Verschlüsselung eine wesentliche Rolle.

Kritiker sehen darin einen Vorwand, um Ärzte zur gemeinschaftlichen Manipulation zu bewegen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), also die Dachorganisationen der niedergelassenen Mediziner in einem festgelegten Gebiet, verwahren sich gegen den Vorwurf, dass sie sich mit dem Abschluss solcher Strukturverträge an einem betrügerischen System beteiligen würden. Stattdessen gehe es bei diesen "Aktionen", wie ein Sprecher der KV Niedersachsen sagt, darum, die "Diagnosestellung des Arztes zu komplettieren". Denn häufig würden die Kassen erst anhand von Verschreibungen oder Überweisungen an andere Mediziner erkennen, dass ein Patient schwerer erkrankt sein muss, als es die angegebene Diagnose des Arztes vermuten lässt. Die Kasse wiederum habe dann ein "legitimes Interesse" daran, die Verschlüsselung der Diagnose anzupassen, um entsprechende Zulagen zu beziehen. Eine "korrekte Diagnosecodierung" sei eine "Grundvoraussetzung für das Funktionieren unseres Abrechnungssystems", für das die KV eine "Mitverantwortung" trage, so der Sprecher weiter.

Ein sogenanntes Upcoding finde nicht statt, sagte ein Sprecher der KV Bremen, Ärzte würden ihre Patienten also nicht systematisch kränker machen als nötig. Stattdessen gehe es um eine "exaktere Verschlüsselung der Krankheiten". Zudem würden in der Regel alle derartigen Verträge von den Aufsichtsbehörden genehmigt. Alles andere sei nach Darstellung der KV Bayern eine "Unterstellung gegenüber der Ärzteschaft, die sachlich unbegründet ist und das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis massiv gefährdet".

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung kritisierte derweil, dass es in der vergangenen Legislaturperiode bereits einen Entwurf für verbindliche Richtlinien für die einheitliche Codierung von Diagnosen gegeben habe - die Regelung sei auf Druck der Ärzte aber aus dem Gesetz gestrichen worden. Anders als in Krankenhäusern gibt es für niedergelassene Ärzte keine verbindlichen Regelungen, wie sie im Zweifelsfall ihre Diagnosen codieren.

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Quelle:
SZ vom 12.10.2016
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