Süddeutsche Zeitung

Mangelernährung:Warum Frauen öfter Hunger leiden als Männer

Lesezeit: 4 min

Von Vivien Timmler

Bei 1,6 Milliarden Frauen auf der Welt kommt täglich das Gleiche auf den Teller: Mais, Maniok-Wurzel oder Reis. Es macht sie geradeso satt - aber nicht lange. Und es fehlt in jeder Mahlzeit, was für ein gesundes Leben essenziell ist: Vitamine, Mineralstoffe und Proteine aus Gemüse, Obst und tierischen Nahrungsmitteln. Diese Mangelernährung heißt auch "stiller Hunger" und kann lebensbedrohlich sein. Weltweit leiden darunter zwei Milliarden Menschen. Etwa 70 Prozent, also die deutliche Mehrheit, sind Frauen und Mädchen. Besonders hoch ist ihr Anteil in Subsahara-Afrika sowie in Südostasien.

Warum trifft Hunger vor allem Frauen? Dieser Frage geht das Hilfswerk Brot für die Welt in einer Studie nach, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Sie zeigt auf, dass der Grund für die Mangelernährung eine sogenannte "doppelte Diskriminierung" ist: einerseits als Frauen, andererseits als Kleinbäuerinnen.

Frauen müssen essen, was übrig bleibt

Erstere, die Diskriminierung als Frau, beginnt häufig bereits in der Familie. In Indien beispielsweise wird Mädchen schon mit ihrer Geburt ein niedrigerer sozialer Status zugewiesen als Jungen. Das wirkt sich auch auf die Zuteilung der Nahrung aus. Die Mädchen müssen essen, was übrig bleibt - und das ist häufig nicht nur weniger, sondern auch von minderer Qualität als das Essen der männlichen Familienmitglieder.

Frauen arbeiten zu viel und verdienen zu wenig

Die Diskriminierung als Kleinbäuerin gründet auf den schlechten Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen vieler Frauen in Afrika und Südostasien. Zwar spielen sie in der Landwirtschaft eine zentrale Rolle: In Ägypten stellen sie mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Arbeitskraft, in Südostasien bis zu 90 Prozent der Arbeitskräfte für die Reisproduktion. Trotzdem befanden sich laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 2011 mehr als die Hälfte aller beschäftigten Frauen in informellen und unsicheren Arbeitsverhältnissen.

Frauen besitzen kaum eigenes Land

Hinzu kommt, dass die Zahl der allein von Frauen geführten Haushalte aufgrund von Bürgerkriegen und Krankheiten wie Aids oder Malaria zwar stetig steigt, die Besitzverhältnisse in den betroffenen Ländern aber weiterhin sehr ungleich geregelt sind. Weltweit befinden sich nach Angaben der UN-Landwirtschaftsorganisation (FAO) nur ein Fünftel der landwirtschaftlich genutzten Flächen in Frauenbesitz, nicht einmal zehn Prozent sind es in Nord-, West- und Zentralafrika sowie in Indonesien, Nepal und Bangladesch. Dabei würde sich laut Studie der Frauenbesitz von Land unmittelbar positiv auf die Ernährungslage der Familie auswirken, da die Frauen so selbst entscheiden könnten, welche Pflanzen sie zum Verkauf anbauen und welche für den Eigenbedarf benötigt werden.

Wie begegnet man also dem Problem der "doppelten Diskriminierung", das in vielen Gegenden die Mangelernährung von Frauen bedingt und diese folglich auch mindern könnte?

Eigentlich hatte man sich schon vor etwa 20 Jahren auf einen Weg verständigt, doppelte Diskriminierung zu mindern: Seit der vierten UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking gilt die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen als eigenständiges Entwicklungsziel. Ein Jahr später, auf dem UN-Welternährungsgipfel in Rom, wurde dieses Ziel auch auf das "Recht auf Nahrung" übertragen.

Zudem hat die UN-Vollversammlung in ihrer neuen "Agenda 2030" ein konkretes Ziel zur Beseitigung von Hunger verabschiedet. Im Wortlaut: "Bis 2030 soll kein Mensch auf der Erde mehr an Hunger leiden." Noch sind sie davon weit entfernt - aktuell hungern auf der Welt immer noch 795 Millionen Menschen. Warum also nicht bei den Frauen ansetzen?

Gebt den Frauen mehr Land

Erster Ansatzpunkt für mehr Geschlechtergerechtigkeit ist laut der Studie eine Umverteilung von Arbeit und Besitz in den betroffenen Ländern durch die Politik. In vielen afrikanischen Ländern gelten Frauen als nicht kreditwürdig, in einigen Gesellschaften ist ihnen sogar der Besitz von Land vollkommen untersagt. Das kann sich nur durch politische Initiativen ändern. Auch das Recht auf menschenwürdige Arbeit und einen gerechten Lohn für Frauen muss gestärkt werden.

Bringt den Männern bei, Frauen zu respektieren

Da eine wirtschaftliche und zumal politisch forcierte Integration jedoch nicht zwangsläufig in eine Gleichstellung mündet, ist auch auf sozialer Ebene viel zu tun. Die Studie hat ergeben, dass in Ländern, in denen diskriminierende Gesetze bestehen, Töchter auch systematisch benachteiligt werden, was sich später von einer Generation auf die nächste überträgt. Zudem sind dort gesellschaftliche und kulturelle Geschlechterbilder so historisch gewachsen, dass sie sich nur schwer verändern lassen. Männer müssen darum stärker sensibilisiert werden, welche Ernährung Frauen brauchen, gerade wenn diese viel arbeiten oder schwanger sind.

Lasst die Frauen über Finanzen entscheiden

Zudem muss es Frauen leichter gemacht werden, eigene Entscheidungen zu treffen. Sie sollten nicht nur über Land, sondern auch über die Ausgaben des Haushaltes verfügen dürfen. In brasilianischen, ghanaischen und philippinischen Haushalten etwa wird doppelt so viel Geld für die Ernährung der Familie ausgegeben, wenn eine Frau die Finanzen kontrolliert, zeigt eine Studie der Weltbank. Diese hob an diesem Montag die Armutsgrenze an. Bislang galt als "extrem arm", wer am Tag weniger als 1,25 Dollar zum Leben zur Verfügung hatte. Nun zieht die Weltbank wegen gestiegener Lebenshaltungskosten in den Entwicklungsländern die Grenze bei 1,90 Dollar.

Aber selbst wenn es nur wenige Dollar sind, über die eine Frau am Tag verfügen kann, ist der Studie zufolge davon auszugehen, dass dadurch nicht nur Quantität, sondern auch die Qualität der Lebensmittel stiege - und somit der "stille Hunger" zurückginge.

Abschließend gibt die Hilfsorganisation Brot für die Welt sechs Empfehlungen, wie gegen die Mangelernähung und die damit einhergehende Diskriminierung von Frauen vorzugehen ist:

  • Die Gesundheits-, Agrar- und Ernährungssysteme in den betroffenen Ländern brauchen Reformen, um den "stillen Hunger" in seinen Anfängen zu bekämpfen.
  • Betroffene müssen eine Basisversorgung erhalten - hinsichtlich Gesundheit und Ernährung.
  • Frauen müssen in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden werden, um ihre Rechte einfacher durchsetzen zu können.
  • Es ist ein internationales Abkommen notwendig, das einen gleichberechtigten Zugang zu Beschäftigung gewährleistet.
  • Von Frauen geführte Haushalte müssen noch stärker in ihrer Eigenständigkeit unterstützt werden.
  • Gewalt gegen Frauen und Mädchen muss häufiger thematisiert werden, um einer Diskriminierung vorzubeugen, die häufig Mitursache für die Entstehung "stillen Hungers" ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2675439
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/vit
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.