Süddeutsche Zeitung

Manager auf Erfahrungssuche:Herr Wunderlich geht ins Gefängnis

Lesezeit: 5 min

Die menschliche Kompetenz vieler Manager gilt als dürftig - ein ungewöhnliches Projekt gewährt ihnen Einblicke in eine Welt, in der anderes zählt als die Rendite.

Von Judith Raupp

"Sind Sie erfasst?" Ralf Wunderlich zögert mit der Antwort. Dabei ist der Siemens-Manager tatsächlich erfasst: in der Justizvollzugsanstalt (JVA) München-Stadelheim. 1500 Gefangene, Mörder, Diebe, Betrüger.

Manche sind schon überführt, einige sitzen erst in Untersuchungshaft. Die Tür in den mächtigen Betonbunker mit den Überwachungskameras an jeder Ecke öffnet wie von Geisterhand.

Die Eingangshalle versprüht den Charme eines DDR-Grenzübergangs zu seiner besten Zeit: dicke Glasscheiben vor den Schaltern, Gittertüren, Beamte in Uniform. Da steht Wunderlich nun und antwortet dem Aufseher: "Ja, ich bin erfasst."

Wer jetzt an eine Kriminalgeschichte denkt, liegt falsch. Wunderlich ist ein unbescholtener Bürger: 40 Jahre alt, bei Siemens stetig aufgestiegen vom kaufmännischen Lehrling ins gehobene Management, verheiratet, Vater von drei Söhnen.

In Anzug und Krawatte sieht der angegraute Herr nicht aus wie jemand, der krumme Dinger dreht. Was hat so einer im Gefängnis verloren? Wunderlich bildet sich weiter. Er nimmt am Projekt Seitenwechsel der evangelischen Kirche teil.

Enge im Beruf

Es soll Führungskräften aus der Wirtschaft einen Einblick in soziale Brennpunkte gewähren, damit sie den feinfühligen Umgang mit Menschen im Allgemeinen und mit den Mitarbeitern im Besonderen trainieren.

Nun würde Wunderlich keineswegs von sich selbst sagen, dass er einen Nachhilfekurs in sozialer Kompetenz bräuchte. Bei Seitenwechsel macht er mit, weil "es den Blick erweitert, wenn man mal etwas anderes sieht". So spricht einer, dem sein Berufsleben zu eng geworden ist.

Wunderlich arbeitet in Nürnberg am Hauptsitz von Siemens Automation & Drives (A&D) - der Konzernsparte für Antriebs- und Automatisierungstechnik. Im Siemens-Jargon heißt er "Manager bei Corporate Information and Operation".

Übersetzt bedeutet das: Wunderlich klügelt aus, wie die Beschäftigten bei A&D effizient arbeiten können. Dann muss er reden, reden, reden, so lange, bis die Abteilungsleiter von den Vorteilen seiner Konzepte überzeugt sind.

Wunderlich übertölpelt sein Gegenüber nicht mit der Hauruck-Methode. Er hört zu, nimmt Einwände ernst. Er schaut seinen Gesprächspartnern in die Augen. Sachliche Argumente sind seine Stärke. Und er ist erreichbar, wenn man ihn braucht.

Ganz anders geht es im Gefängnis zu. Morgens an der Pforte der JVA muss Wunderlich sein Handy abgeben. Einen Manager trifft das mitten im Selbstverständnis. Einen ganzen Tag lang abgeschnitten? Was, wenn ihn jemand dringend erreichen muss?

Auch Wunderlich hat am ersten Tag so gedacht. Abends, in seinem Münchner Hotelzimmer, hat er gleich seine E-Mails gelesen. Wunderlich schläft während des Praktikums nicht hinter Gittern. So weit geht der Seitenwechsel nicht.

Neue Welt

Der Blick auf den Laptop hat dem Manager gezeigt: sein Team von 20 Mitarbeitern kommt auch mal ohne den Chef klar. So schaffte er es, seinen Job loszulassen, sich ganz auf die Welt im Gefängnis einzulassen.

Diese Welt steht plötzlich leibhaftig vor Wunderlich: junge Männer und drogensüchtige Jugendliche mit verbauter Zukunft. In so einem Moment denkt er nicht an Siemens, eher an seine Söhne und wie er es schafft, dass sie nicht an Orte wie Stadelheim geraten.

Viel leichter kommt er damit klar, dass er in der JVA nur Beobachter ist, nicht - wie sonst üblich - derjenige, der die Richtung weist. Er ist einer unter vielen, wenn er mit den Gefangenen im Hof joggt.

Er ist Schüler, wenn ihn die Vollzugsinspektoren über vorzeitige Entlassung oder Hafturlaub aufklären.

Und der "Herr von Siemens", wie ihn die Gefangenen nennen, ist sich auch nicht zu schade, Essen zu verteilen. Ein Sträfling zeigt dem Manager,wie das geht. Wunderlich läuft mit ihm durch die Gänge, schiebt auch mal den Wagen mit den Mahlzeiten, versucht sich zu merken, in welcher Zelle der Vegetarier, in welcher der Sträfling wohnt, der kein Schweinefleisch isst.

"Kollegialer Umgang"

Wunderlich schätzt den "sehr kollegialen Umgang" in der JVA. Das sagt er immer wieder. Obwohl Euphorie nicht seine Art ist, schwärmt er von den Psychologen und Sozialarbeitern.

"Die Leute geben das Gespräch mit den Gefangenen nie auf. Selbst dann nicht, wenn sie genau wissen, dass sie einen Kandidaten kurz nach der Entlassung wieder im Gefängnis sehen." Halb ungläubig, halb bewundernd, sagt Wunderlich das. Wie ineffizient muss die soziale Arbeit dem Kaufmann vorkommen.

Trotzdem hat er sie schätzen gelernt. Das Wohngruppenprojekt zum Beispiel hält er für eine gute Sache. Vielleicht, weil sich die Gefangenen dafür bewerben und zu bestimmten Spielregeln verpflichten müssen. Bewerben, beurteilen, solche Dinge sind Wunderlich vertraut.

In der Wohngruppe haben die Gefangenen neben ihren Zellen zusätzlich einen Aufenthaltsraum zum Fernsehen und eine Küche. Als der Duft von gebratenen Zwiebeln durch die Räume zieht, atmet Wunderlich tief ein. Kochen hat etwas Beruhigendes, weil es so alltäglich ist. Auch draußen kochen die Menschen.

Draußen ist für Wunderlich vor allem sein Büro im Nürnberger Stadtteil Moorenbrunn. Dort ist er ein freier Mann. Im Bau sitzt er allerdings auch, genau gesagt im Bau acht, dritter Stock, Flügel A.

Auf andere Gedanken gekommen

Ganz ähnlich wie in Stadelheim hat Siemens die einzelnen Gebäude nummeriert - zur besseren Orientierung für Besucher und Beschäftigte. Orientierung, klare Ziele, straffe Abläufe, das sind wichtige Dinge für einen Konzern, der Gewinnmaximierung betreibt. "Kosten-Nutzen-Denken muss sein", findet Wunderlich. Der Konzern schulde den Aktionären eine Rendite. Bei Siemens wird Erfolg vor allem monetär gemessen.

Wunderlich sitzt an seinem Schreibtisch im Großraumbüro. Aus den Bilderrahmen lächeln die Kinder, ringsum stehen Pflanzen. In Gedanken lässt der Manager das Praktikum in der JVA noch einmal Revue passieren. Ob er seine Mitarbeiter jetzt besser behandele? "Ich war auch vorher kein Unmensch", sagt der Manager und lacht zum ersten Mal. Er hat seinen Führungsstil nicht geändert.

Weshalb auch? Seine Mitarbeiter haben ihrem Chef - zumindest in der betriebsinternen Befragung - gute Noten gegeben. Hat Seitenwechsel dann überhaupt etwas gebracht? "Auf alle Fälle", beteuert Wunderlich, "vor allem für mich persönlich." Der Einblick ins Gefängnis hat ihn daran erinnert, dass es noch etwas jenseits von Effizienz-Rechnungen gibt.

Gebracht hat das Projekt auch etwas für Hans Herbert Moser. Er leitet das Gefängnis in Stadelheim und lobt vor allem den Austausch über Personalführung und Organisation mit dem Manager aus der Wirtschaft: "Das hat einen Gedankenprozess ausgelöst." Welchen, will er nicht sagen. Das ist verständlich, weil in der JVA viele Beamte arbeiten.

Würde Moser erzählen, wie er künftig dank der Tipps von Wunderlich die Effizienz steigern will, ginge sofort wieder die Lästerei über faule Beamten los.

Die Gespräche mit Wunderlich müssen aber fruchtbar gewesen sein. Sonst würde Moser den Seitenwechsel nicht als "Geschäft auf Gegenseitigkeit" bezeichnen. Schließlich haben seine Leute viel Arbeitszeit damit verbracht, Wunderlich eine Woche lang alles im Gefängnis zu zeigen und zu erklären.

Moser hat auch Gefallen an der "anderen Seite" gefunden. Er will auf alle Fälle ein Praktikum in einem Unternehmen absolvieren.

Bei Seitenwechel geht das allerdings nicht. Das Projekt soll gerade Manager aus der freien Wirtschaft in Sachen Sozialkompetenz belehren. Das ist auch nötig, findet Pfarrer Roland Pelikan.

Suche nach dem guten Ton

Er koordiniert die Praktika in Bayern. Zahlreiche Gespräche mit Mobbingopfern, überforderten Chefs und frustrierten Mitarbeitern haben ihn gelehrt: "Es gibt viele Führungskräfte mit hervorragenden fachlichen Qualifikationen, aber mit gravierenden Defiziten bei der sozialen Kompetenz. Und das ist freundlich ausgedrückt."

Erreicht aber Seitenwechsel die Manager, die eine Lektion am nötigsten hätten? "Das fragen wir uns auch", gibt Pelikan zu und schweigt ziemlich lange.

Gerd Lüer, Leiter der Abteilung für Arbeitspsychologie an der Universität Göttingen, hat seine eigene Theorie, weshalb sich gestandene Manager als Sozial-Lehrlinge betätigen. "Diese Leute sind intelligent und neugierig", glaubt er. Die zunehmende Spezialisierung im Job enge sie ein. Also suchen sie ein Tätigkeitsfeld jenseits des Fachgebiets, das aber in einer gewissen Weise mit dem Beruf zu tun hat.

Sozialpraktikum aus purer Langeweile also, und weil es im Lebenslauf gut aussieht? So weit will Lüer nicht gehen und sagt schnell: "Auch das Verantwortungsbewusstsein spielt eine Rolle. Die Manager sehen, dass es auf der Welt auch nicht materielle Probleme gibt. Und sie wissen, dass sie den Einfluss haben, etwas zu ändern."

Der Universitätsprofessor ist überzeugt, dass auch die Chefs irgendwann Zugang zu Projekten wie Seitenwechsel finden, die Nachhilfe in Menschenführung brauchen: "Manager kommen viel herum, treffen sich und reden dann natürlich über solche Praktika. Mit der Zeit gehört es zum guten Ton, so etwas einmal gemacht zu haben." Den guten Ton kann man zur Not ja im Gefängnis lernen.

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Quelle:
SZ vom 31.01.2004
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