Brasilien:Der neue Präsident Lula will Hunger und Armut bekämpfen

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Brasilien, Der neue Präsident Lula will Hunger und Armut bekämpfen (Video: Reuters)

Als die linke Arbeiterpartei vor zwei Jahrzehnten zum ersten Mal die Macht in Brasilien übernahm, war die Wirtschaftslage prekär. Heute ist sie katastrophal. Was der neue Präsident Lula dagegen unternehmen will.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Vor ein paar Monaten trat Luiz Inácio Lula da Silva an einem Sonntag auf eine hell erleuchtete Bühne. Es war Anfang September, die Wahlen in Brasilien hatten noch nicht stattgefunden und der linke Politiker war noch nicht zum neuem Präsidenten seines Landes gewählt worden. Hier, in der Zentrale der Metallarbeitergewerkschaft von São Bernardo, tief im Industriegürtel der brasilianischen Metropole São Paulo, machte er Halt auf Wahlkampftour. Es war ein Heimspiel. Auf den T-Shirts vieler Besucher war sein Name oder das Konterfei gedruckt. Frenetischer Applaus brandete auf, als er die Bühne betrat. "Danke, Genossinnen", rief Lula da Silva, "ich fühle mich wie zu Hause!" Und jeder wusste: Das war nicht nur eine hohle Phrase.

Am 1. Januar wurde Lula da Silva zum Staatschef seines Landes vereidigt. Es ist seine dritte Amtszeit, er hat dazu jahrzehntelange Erfahrung in der Politik Brasiliens. Dennoch ist Lula da Silva aber auch ein gelernter Metallarbeiter, der es zu einem der einflussreichsten Gewerkschafter in der Geschichte seines Landes gebracht hat. Will man wissen, wohin Südamerikas größte Demokratie in den nächsten Jahren wirtschaftlich wohl steuern wird, hilft es darum, erst mal einen Blick in die Geschichte zu werfen.

Es ist die dritte Amtszeit für Lula da Silva. Die wirtschaftliche Lage ist noch schwieriger als vor 20 Jahren, als er zum ersten Mal Präsident Brasiliens wurde. (Foto: Eraldo Peres/AP)

Genau 20 Jahre ist es her, dass Lula da Silva im Januar 2003 seine erste Amtszeit als Präsident antrat. Brasilien befand sich damals in einer Wirtschaftskrise, und in den Chefetagen von Banken und Firmen fürchtete man, mit den Linken in der Regierung könnte alles nur noch schlimmer werden. Die Angst ging so weit, dass Lula vor den Wahlen sogar einen offenen Brief schreiben musste, in dem er versprach, internationale Verträge zu achten und die Wirtschaft nicht radikal umzubauen.

Tatsächlich waren seine ersten Amtsjahre dann geprägt von einer vergleichsweise konservativen Wirtschaftspolitik: Haushaltsdisziplin, Schuldenabbau, Förderung von Unternehmern. 2006 wurde Lula im Amt bestätigt, die Wirtschaft wuchs, dank eines weltweiten Rohstoffbooms, das Geld sprudelte nur so in die öffentlichen Kassen, viel wurde in Sozialprogramme gesteckt, viel aber verschwand auch in den Taschen korrupter Politiker.

Dilma Rousseff im Oktober 2016 vor einem Wahllokal in Bundesstaat Rio Grande do Sul. Wenige Wochen vorher war sie des Amtes enthoben worden. Sie selbst sprach von einem Putsch. (Foto: Gustavo Roth/AFP)

Ende 2010 trat Lula da Silva ab, als einer der beliebtesten Präsidenten in der Geschichte seines Landes. Die ersten Probleme hatten aber bereits begonnen: Immer mehr Bestechungsskandale kamen ans Licht, und auch Brasilien wurde von der weltweiten Wirtschaftskrise 2008 erfasst. Die linke Arbeiterpartei blieb weiter an der Macht, Lula da Silvas Nachfolgerin, Dilma Rousseff, nahm es aber nicht mehr so genau mit der Haushaltsdisziplin. Um die Wirtschaft anzukurbeln, gab es billige Kredite, und die öffentlichen Ausgaben wurden erhöht. Brasilien schlingerte in die schlimmste Rezession in der Geschichte des Landes, Massenproteste brachen aus, später folgten dann Amtsenthebungsverfahren und ein höchst umstrittener Korruptionsprozess, der Lula da Silva für eineinhalb Jahre ins Gefängnis brachte, bis ein Gericht alle Urteile wieder aufhob.

Kaum war klar, dass Lula da Silva bei den Wahlen im Oktober abermals für die Präsidentschaft kandidieren würde, waren auch all die alten Ängste wieder da, die schon 20 Jahre vorher die Wirtschaft umgetrieben hatten: Wieder hieß es, die Linken würden das Land an die Wand fahren, wieder musste Lula einen offenen Brief schreiben, in dem er abermals eine verantwortungsbewusste Wirtschaftspolitik versprach. Die Geschichte schien sich zu wiederholen, aber so einfach ist es nicht.

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Die Pandemie traf das Land hart

War die Wirtschaftslage prekär, als die linke Arbeiterpartei vor 20 Jahren das erste Mal die Macht übernahm, ist sie nun im Vergleich dazu katastrophal. Die Pandemie hat Brasilien schwer getroffen, das Land ist hoch verschuldet, die Inflation hat vor allem die Ersparnisse der unteren Mittelklasse aufgefressen. Lula hat bereits gesagt, dass die Bekämpfung von Hunger und Armut die Hauptaufgabe seiner neuen Regierung sein wird.

Um den Spannungen und Begehrlichkeiten in seinem Land irgendwie Herr zu werden, hat Lula da Silva gleich mehr als drei Dutzend Minister ernannt, darunter Sônia Guajajara: Die Ministerin der indigenen Völker von Brasilien trägt einen blauen Federschmuck. (Foto: Santiago Mazzarovich/dpa)

Die Gestaltungsspielräume sind allerdings gering. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen steigen zwar, von einem Boom wie in den Nullerjahren kann aber bisher nicht die Rede sein. Lula da Silva braucht darum die Unterstützung der Wirtschaft, ebenso wie er sich auch mit den konservativen Parteien arrangieren muss, die bei den Wahlen enorm viele Sitze im Parlament gewonnen haben. Und so wird seine Wirtschaftspolitik in den nächsten Jahren wohl vor allem eines sein: eine Gratwanderung. Er muss Vater der Armen sein und gleichzeitig Freund der Unternehmer.

All das zeigt sich im neuen Kabinett: Lula da Silva hat gleich mehr als drei Dutzend Minister ernannt, um den Spannungen und Begehrlichkeiten irgendwie Herr zu werden. Mit dabei sind Politiker wie Geraldo Alckmin, eigentlich ein ehemaliger politischer Rivale von Lula da Silva, der nun Vizepräsident und Minister für Entwicklung, Industrie und Handel ist. Alckmin steht eher für eine konservative Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig aber sitzt im Finanzministerium seit 1. Januar kein Mann vom Fach, sondern Fernando Haddad, ein enger Vertrauter des neuen Präsidenten. Bei Unternehmen und in der Wirtschaft löste das Ärger und Besorgnis aus.

Immerhin: Mit Lula da Silva wird Brasilien im Ausland wohl wieder an Gewicht gewinnen. Sein rechter Amtsvorgänger Jair Bolsonaro hatte das Land mit seiner katastrophalen Umweltpolitik und verbalen Ausfällen isoliert. Die neue linke Regierung wird nun die einstmals guten Beziehungen zu Europa wieder neu beleben wollen, auch in Hinblick auf den Vertrag zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten, zu denen auch Brasilien gehört. Gleichzeitig ist da aber auch noch China: Längst ist die Volksrepublik der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner, unter Jair Bolsonaro machte man zwar gute Geschäfte, aber auch hier hatten Verbalattacken zu einer Verschlechterung des binationalen Klimas geführt. Mit Lula könnte sich die Zusammenarbeit nun über Handel und Industrie hinweg ausdehnen auch auf Technik und Forschung.

Ex-Präsident Jair Bolsonaro posiert während des Wahlkampfes mit einer Anhängerin für ein Selfie. International hatte er das Land isoliert. (Foto: Eraldo Peres/AP)

Brasilien, das ist klar, wird sich in den nächsten Jahren verändern. Die neue linke Regierung wird das Land nicht in den Sozialismus führen, dafür ist Lula da Silva zu sehr Gewerkschafter, der das System nicht umstürzen will, sondern verbessern, allerdings im Sinne der Arbeiter. Schon vor mehr als 30 Jahren zitierte Brasiliens neuer Präsident dafür Henry Ford: "Man muss den Angestellten gute Löhne zahlen, damit sie sich die Autos kaufen können, die sie selber hergestellt haben".

Viele Autofirmen haben das Land verlassen

Bleibt man in diesem Bild, zeigt sich aber auch das Grundproblem des heutigen Brasiliens: Denn viele Autofirmen haben in den vergangenen Jahren ihre Fabriken geschlossen in dem Land, gerade auch in und rund um São Bernardo, wo Lula da Silvas einstige Gewerkschaftszentrale stand. Viele Menschen hier sind nun arbeitslos, und draußen, vor den Toren der Gewerkschaftszentrale, sitzen ganze Familien auf dem Gehsteig und betteln um Essen.

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