Süddeutsche Zeitung

Lufthansa, Ärzte und Bahn zur Tarifeinheit:Das laute Echo eines Urteils

Kleine ganz groß: Durch die Aufhebung der Tarifeinheit haben Spartengewerkschaften mehr Macht. Welche Gefahren bei der Lufthansa, der Bahn und den Klinikärzten drohen.

Ein Betrieb, ein Tarifvertrag: So lautete das Prinzip, das seit Jahren die deutsche Arbeitswelt prägte. Das hat jetzt das Bundesarbeitsgericht in einem spektakulären Urteil gekippt. Gestärkt werden nun vor allem die kleinen Gewerkschaften, die in Konkurrenz zu den DGB-Organisationen für bessere Löhne kämpfen.

Bedeutet dies das Ende der Solidarität unter den Arbeitnehmern? Drohen vielleicht sogar ständig Streiks? Arbeitgeber und DGB fordern in seltener Einmütigkeit gesetzliche Regelungen, um die Tarifeinheit zu sichern.

Im konkreten Fall ging es um einen Arzt: Er wollte weiterhin nach dem Ärzte-Tarifvertrag der Gewerkschaft Marburger Bund bezahlt werden und nicht nach dem Tarifvertrag, den die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi mittlerweile für alle Klinikbeschäftigten ausgehandelt hatte.

Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat dem Arzt nun Recht gegeben. Anders als die bisherige Rechtsprechung es vorsah, können jetzt in einem Betrieb mehrere Tarifverträge zugleich gelten.

Spartengewerkschaften wie der Marburger Bund, die Lokführergewerkschaft GDL, die Kabinengewerkschaft Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) und die Vereinigung Cockpit der Piloten werden durch den Spruch der Erfurter Richter in ihrer Position gestärkt - mit unabsehbaren Folgen für die betroffenen Unternehmen und Branchen.

Beispiel: Deutsche Bahn

Bei der Bahn erinnert man sich mit Schaudern an die Tarifauseinandersetzung 2007/2008. Zwar hatte man sich damals mit den Bahngewerkschaften Transnet und GDBA relativ schnell auf moderate Lohnerhöhungen für die 134.000 Bahn-Beschäftigten geeinigt, doch einer machte nicht mit: der damalige Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), Manfred Schell.

Er bestand auf einem eigenen Tarifvertrag für die Lokomotivführer und forderte 31 Prozent mehr Gehalt. In den folgenden Monaten kam es zu den größten Streiks in der Geschichte der Bahn. Mal legten die Lokführer den Personenverkehr lahm, mal den Güterverkehr - was die Wirtschaft massiv beeinträchtigte. Muss die Bahn solche Störungen jetzt häufiger befürchten? "Jedenfalls nicht vor dem Jahr 2014", sagt ein Sprecher der Bahn. Bis dahin gelte der Grundlagen-Tarifvertrag, auf den sich Transnet, GDBA, GDL und die Bahn im März 2008 geeinigt hatten.

Darin wurde vereinbart, dass die GDL allein für die Lokführer zuständig ist, während Transnet und GDBA sich auf die anderen Bahn-Beschäftigten beschränken. Die Gewerkschaften verpflichteten sich, ihre Tarifverträge gegenseitig anzuerkennen.

Doch was ist nach 2014? Wird es dann neben den Lokführern auch eine Gewerkschaft für Gleisarbeiter oder für Fahrdienstleiter geben, die alle ihre eigenen Streiks veranstalten? "Ich glaube nicht, dass sich weitere Spartengewerkschaften bilden", sagt der heutige GDL-Chef Claus Weselsky. "Die großen Gewerkschaften haben mittlerweile erkannt, dass sie die Interessen der einzelnen Beschäftigungsgruppen besser vertreten müssen, sonst verlieren sie Mitglieder."

Für die Bahn selbst ändere sich daher durch die neue Rechtsprechung wenig. Zwar fordert die GDL bereits mehr Lohn für die Lokführer und will zur Not im August auch streiken. "Das ist aber völlig unabhängig von dem Urteil", sagt Weselsky. "Das Urteil bestätigt nur, dass wir das tatsächlich auch dürfen." Daniela Kuhr

Beispiel: Lufthansa

Fast zehn Jahre ist es her, dass die Pilotengewerkschaft VC der Lufthansa den Kampf angesagt hatte. Damals tobte fast ein halbes Jahr lang der bis dahin härteste Tarifstreit bei der Fluggesellschaft. Die Piloten hatten sich gerade von der neu entstandenen Dienstleistungsgewerkschaft Verdi getrennt und in einer eigenen Berufsgewerkschaft organisiert.

Sie forderten einen Ausgleich für den Sanierungsbeitrag, den alle Beschäftigten der Lufthansa Jahre zuvor erbracht hatten. Piloten sind aber mächtiger als Mitarbeiter, die in der Verwaltung sind. Wenn Piloten streiken, bleiben die Flugzeuge am Boden, und das ist extrem schlecht fürs Geschäft. Deshalb war ihr Druckmittel auf den Lufthansa-Vorstand besonders groß. Sie forderten 30 Prozent mehr Gehalt und erreichten immerhin bis zu 20 Prozent mehr.

Das war 2001. Inzwischen haben sich neben den 4500 Lufthansa-Piloten auch die 16.000 Flugbegleiter in einer eigenen Gewerkschaft, der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation UFO, verselbständigt. Der Unterschied zu den Piloten ist, dass die Flugbegleiter nicht nur bei UFO, sondern auch bei Verdi Mitglied sind.

Damit gibt es für eine Berufsgruppe zwei Tarifverträge. "Gewerkschaftspluralität ist bei Lufthansa Realität", sagte eine Firmensprecherin. Die Verhandlungen sind aber nicht einfach. Denn die Fluggesellschaft strebt einheitliche Arbeitsbedingungen an. Bislang konnte sich Lufthansa mit Verdi und UFO auf gleiche Inhalte und Laufzeiten in den jeweiligen Tarifverträgen einigen.

Einfacher sind dagegen die Gespräche für die 34.000 Beschäftigten am Boden, also etwa in der Verwaltung. Diese werden allein von Verdi vertreten. Ärger machen der Lufthansa momentan wieder einmal die Piloten. Sie wollen mehr Mitsprache bei Management-Entscheidungen, was sich der Lufthansa-Vorstand verbeten hat.

Über den Mantel- und Vergütungstarifvertrag hat dagegen der Schlichter gerade eine Empfehlung abgegeben, die am Donnerstagabend von den Piloten angenommen wurde. Sibylle Haas

Beispiel: Krankenhäuser

"Was für uns schon lange gilt, wird in der Rechtsprechung jetzt nachvollzogen", heißt es beim Marburger Bund (MB). Tatsächlich war die Ärztegewerkschaft eine der ersten Organisationen, die sich als Spezialvertretung für eine bestimmte Berufsgruppe positionierte und etablierte.

Am 9. September 2005 löste sich der Marburger Bund von Verdi und entzog dem Gewerkschaftsriesen die Vollmacht, Tarifverhandlungen für Klinikärzte führen zu können. Gleichzeitig forderten die Ärzte die öffentlichen Arbeitgeber auf, ausschließlich mit dem MB über Gehälter von Ärzten an Kliniken zu sprechen.

Um diese Position und auch die tariflichen Forderungen durchzusetzen, organisierte die Gewerkschaft im Frühjahr 2006 zunächst an den Unikliniken und dann an den kommunalen Krankenhäusern den größten Ärztestreik in der Geschichte der Bundesrepublik. Erst nach Monaten fanden die Aktionen ein Ende - in beiden Bereichen mit umfangreichen finanziellen Zugeständnissen der Arbeitgeber.

Anfang 2010 vertrat der MB etwa 108.000 Mediziner an deutschen Kliniken, bei der Bundeswehr, aber auch in vielen Pharma-Unternehmen. Er ist damit nach eigenen Angaben die größte Ärzteorganisation mit freiwilliger Mitgliedschaft in Europa.

Die letzte Tarifauseinandersetzung focht der MB im Frühjahr 2010 mit dem Verband kommunaler Arbeitgeber aus. Er nutzte dabei seine Streikmacht gezielt aus. Insgesamt vier Wochen lang dauerte der Arbeitskampf. Tagelang konnten zahlreiche Kliniken in Deutschland nur einen Notdienst anbieten. Geplante Operationen mussten verschoben werden oder in nicht kommunalen Krankenhäusern vorgenommen werden.

Ziel der Gewerkschaft war neben einer Steigerungen des Einkommens der Ärzteschaft vor allem eine bessere Honorierung ihrer Bereitschaftsdienste und Nachtschichten. "Ohne die Streiks hätten wir ein weit schlechteres Ergebnis bekommen", so MB-Chef Rudolf Henke. Guido Bohsem

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Quelle:
SZ vom 25.06.2010/stl/pak
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