Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftskriminalität:Warum Lokalzeitungen für gutes Klima sorgen

Eine Studie aus den USA zeigt: Wenn Redaktionen schließen, steigen in den betroffenen Regionen Wirtschaftskriminalität und Umweltverschmutzung. Leidtragende sind die Bürgerinnen und Bürger.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Manchmal fließt wenigstens ein Tränchen, wenn wieder einmal irgendwo im Land eine Redaktionsstube für immer ihre Pforten schließt. Die meisten Bürger aber bekommen vom großen Zeitungssterben in vielen westlichen Industriestaaten kaum etwas mit oder zucken nur mit den Schultern: Passte halt nicht mehr in die Zeit, heißt es dann, ganz so, als sei das Lokalblatt mit seiner oft jahrzehntelangen Tradition ein Walkman oder Telefonhäuschen.

Dass mit der Lokalzeitung aber mehr verschwindet als ein Stück Kultur, ja, dass die Schließung das Leben der Bürgerinnen und Bürger teurer und gefährlicher machen kann, zeigt jetzt eine Studie aus den USA. In dem Papier untersuchen die Ökonomen Jonas Heese, Gerardo Pérez Cavazos und Caspar David Peter, wie örtliche Firmen reagieren, wenn der letzte Journalist die Stadt verlassen hat. Ergebnis: Die Fälle von Betrug, Finanzvergehen, Wasser- und Luftverschmutzung sowie Verstöße gegen das Arbeitsschutzrecht nehmen zu, der Grad an krimineller Energie steigt. "Wenn es keine Lokalzeitung mehr gibt, die der Wirtschaft vor Ort auf die Finger schaut, begreifen das viele Firmen ganz offensichtlich als Freifahrtschein für Betrug und Regelverletzungen", sagt Heese, der an der Elite-Universität Harvard seit Jahren zum Thema unternehmerisches Fehlverhalten forscht. Pérez Cavazos lehrt in San Diego, Peter in Rotterdam.

Allein in den vergangenen 20 Jahren hat sich die verkaufte Auflage aller US-Lokalzeitungen in etwa halbiert, Dutzende Publikationen sind ganz vom Markt verschwunden. In manchen Orten gibt es mittlerweile gar kein unabhängiges Medium mehr. Um herauszufinden, welche Folgen das hat, schauten sich die Wissenschaftler die Entwicklung der Firmendelikte in 45 betroffenen Bezirken aus allen Teilen der USA an. Dabei verwendeten sie den "Violation Tracker" der gemeinnützigen Organisation Good Jobs First, der auflistet, wie viele Strafzahlungen die 44 wichtigsten Ministerien und Regulierungsbehörden des Landes einem Unternehmen über einen gewissen Zeitraum aufgebrummt haben. Wer in der Suchmaske etwa "Deutsche Bank" eingibt, erfährt, dass das Geldhaus und seine Töchter seit dem Jahr 2000 genau 76 Regelverstöße begangen haben und 18,3 Milliarden Dollar an Bußen zahlen mussten.

In Regionen ganz ohne Lokalzeitung stiegen die Bußgelder um 36 Prozent

Bei ihrer Betrachtung stießen Heese, Pérez Cavazos und Peter auf 1383 Aktiengesellschaften, die in insgesamt gut 10 000 lokalen Niederlassungen 26 450-mal gegen geltendes Recht verstießen. Das entspricht einem Plus von 1,1 Prozent gegenüber jenen Bezirken, in denen die Zeitungslandschaft unverändert blieb. Der Anstieg klingt zunächst nicht allzu dramatisch, allerdings sind hier auch jene Fälle berücksichtigt, in denen zwar eine einzelne Redaktion geschlossen wurde, andere Lokalzeitungen vor Ort aber weitermachten.

Aussagekräftiger sind deshalb zwei andere Werte: Die Summe der Bußen, die die Behörden gegen die Firmen verhängten, erhöhte sich im Schnitt um gut 15 Prozent - in jenen Bezirken, in denen es am Ende tatsächlich gar keine Lokalzeitung mehr gab, sogar um 36 Prozent. "Die höhere Zahl an verhängten Strafen ist das eine. Weitaus gravierender ist, dass die Schwere der Delikte drastisch zunimmt", so Heese im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. In Geldbeträgen und über drei Jahre gerechnet erhöhten sich die Strafzahlungen pro Firma um 30 000 Dollar oder ein Prozent des örtlichen Umsatzes. Bei durchschnittlich 41 Unternehmen im Verbreitungsgebiet einer Lokalzeitung entspricht das einem Anstieg der Bußgelder um 1,2 Millionen Dollar. Um ihre Ergebnisse zu überprüfen, werteten die Wissenschaftler zudem das Emissionsregister der nationalen Umweltbehörde EPA aus. Demnach wuchs der Ausstoß giftiger Gase in Regionen, in denen Redaktionen geschlossen wurden, um durchschnittlich 18,3 Prozent an.

Die Dunkelziffer ist aus Sicht der Wissenschaftler sehr hoch

Doch selbst das ist alles nur die halbe Wahrheit, denn die Behörden können ja nur in solchen Fällen Bußen verhängen, in denen eine Firma tatsächlich erwischt wird. Genau diese Recherchearbeit aber leisten häufig Lokaljournalisten, oft genug erfahren die Aufsichtsämter erst aus der Zeitung von gesetzeswidrigen Machenschaften. "Ohne Lokalzeitung gibt es niemanden mehr, an den sich Mitarbeiter skrupelloser Unternehmen mit Informationen wenden können", sagt Heese. "Die Zahlen, die wir ermittelt haben, sind deshalb die absolute Untergrenze dessen, was tatsächlich an Gesetzesverstößen passiert. Es dürfte darüber hinaus eine hohe Dunkelziffer geben." Und selbst wenn eine Firma einmal ertappt wird: "Gibt es keine Lokalzeitung, kann sie die Strafe zahlen, ohne dass jemand darüber berichtet und ihre öffentliche Reputation dadurch Schaden nimmt."

Heeses Studie passt zu einer Untersuchung dreier Wissenschaftler der University of Illinois at Chicago und der Universität Notre Dame aus dem Jahr 2019. Darin kommen die Autoren Dermot Murphy, Pengjie Gao und Chang Lee zum Ergebnis, dass die Schließung amerikanischer Redaktionen in den Verwaltungen der betroffenen Städte und Bezirke oft höhere Haushaltsdefizite, steigende Finanzierungsaufwendungen und eine Aufblähung des öffentlichen Dienstes nach sich zieht. So kostete eine gewöhnliche Kommunalanleihe im Schnitt plötzlich 650 000 Dollar mehr an Zinsen, wenn kundige Journalisten den Kämmerern nicht mehr auf die Finger schauten. Eine Lokalzeitung, so die Wissenschaftler, spare den Steuerzahlern also Geld. Auch habe sich gezeigt, dass neue Online-Netzwerke die Arbeit ortsansässiger, erfahrener und gut vernetzter Lokalreporter nicht ersetzen könnten.

Dabei hatte Heese zu Beginn seiner Untersuchung durchaus Zweifel gehabt, ob kleinere Medienhäuser einen nennenswerten Beitrag zur Aufdeckung von Wirtschaftskriminalität leisten. "Wir hatten zunächst vermutet, dass Lokalzeitungen die örtlichen Unternehmen eher pfleglich behandeln - auch um es sich nicht mit potenziellen Anzeigenkunden zu verscherzen", so der Ökonom. "Unsere Untersuchung hat aber gezeigt, dass die Zeitungen ihre Überwachungsfunktion tatsächlich wahrnehmen." Umgekehrt bedeutet das: Ist die Redaktionsstube erst einmal geschlossen, können sich die Bürger schon einmal darauf einstellen, dass ein kriminelles Unternehmen über kurz oder lang versuchen wird, einen Teil seiner Kosten auf sie abzuwälzen. "Wenn Lokalzeitungen vom Markt verschwinden", so Heeses Fazit, "zahlt die Allgemeinheit dafür einen hohen Preis."

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