Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Zeit für eine Vision

Bis zu vier Prozent mehr Geld? Klingt verrückt. Die IG Metall sollte schmerzhafte Kompromisse eingehen, um möglichst viele Arbeitsplätze zu retten. Die Vier-Tage-Woche könnte eine Lösung sein, auch für die Zeit nach der Pandemie.

Von Alexander Hagelüken, München

Die Deutschen bangen gerade, ob Corona doch wirtschaftliche Dauerschäden verursacht. Bisher blieb Massenarbeitslosigkeit aus. Jetzt aber steigen die Infektionszahlen, und noch ist der Impfstoff nicht fertig. Da schüttelt mancher den Kopf, dass die IG Metall in dieser Lage bis zu vier Prozent mehr Geld fordert. Sind die verrückt in Frankfurt? Wer das Ganze näher betrachtet, erkennt jedoch: Die Tarifrunde könnte durchaus der Erfolg werden, den die Industrie bitter nötig hat. Dafür müssen allerdings sowohl Gewerkschafter wie Arbeitgeber ihre Egos zurückstellen.

Es geht in der aktuellen Lohnrunde um viel. In der Metall- und Elektroindustrie entstanden binnen zehn Jahren mehr als eine halbe Million gut bezahlte Jobs. Nun arbeiten im größten deutschen Industriesegment fast vier Millionen Menschen - noch. Schon vor Corona ergriff der Wandel den Sektor, vor allem die Autobranche. Erst Dieselskandal und Digitalisierung, dann Dekarbonisierung zu klimafreundlicheren Motoren. Auch der Protektionismus von China und den USA trifft die Firmen. Wie viel daran ein Präsident Biden ändert, erscheint ungewiss. Und dazu kommt eben die Pandemie. Hunderttausende Jobs stehen auf dem Spiel. Wie kann die IG Metall da Arbeit um bis zu vier Prozent verteuern wollen?

Es gehört halt zu den Ritualen, vor Tarifrunden die Backen aufzublasen. Gewerkschafter und Arbeitgeber versuchen sich wie Marktschreier zu übertönen. Dabei geht es darum, die andere Seite zu beeindrucken und das eigene Lager zu mobilisieren. Die IG Metall ruft nach vier Prozent. Die Arbeitgeber schließen jede Lohnerhöhung aus und fordern unbezahlte Mehrarbeit. Am Ende wird etwas ganz anderes herauskommen. Nur dürfen beide Seiten nicht vergessen, schnell genug vom Baum herunterzuklettern, um ein Desaster zu verhindern.

Um mal das Positive zu betonen: Die IG Metall bot Anfang des Jahres schon vor Corona an, auf eine bezifferte Lohnforderung zu verzichten. Diese Tarifrunde sollte sich darum drehen, Arbeitsplätze zu sichern. Dann allerdings verkündeten Zulieferer wie Conti und Schaeffler oder der Lkw-Bauer MAN, Zehntausende Arbeitsplätze zu streichen. Nun verschafft sich die Gewerkschaft mit ihrer übertriebenen Geldforderung ein Druckmittel, um den Erhalt von Jobs auch wirklich durchzusetzen. Tatsächlich fällt auf, dass die Industrie unterschiedlich agiert. Die Autohersteller nutzen, ebenso wie kleinere Firmen, Kurzarbeit und anderes, um Beschäftigte zu halten. Konzerne wie Conti und MAN dagegen erwecken den Verdacht, die Corona-Krise für einen Kahlschlag zu nutzen, mit dem sie Gewinne turmhoch über gesellschaftlichen Frieden stellen.

Die Vier-Tage-Woche ist sinnvoll, auch nach der Pandemie

Wie lässt sich die Tarifrunde lösen? Die IG Metall will in den Betrieben vereinbaren, Beschäftigte stärker für die Zukunft zu qualifizieren. Außerdem sollen Vier-Tage-Wochen die Arbeitszeit reduzieren, um Auftragsflauten aufzufangen und dabei Entlassungen zu verhindern. Beide Ideen haben etwas Visionäres. Das wird gerade an der Vier-Tage-Woche deutlich. Die Arbeitszeit sinkt in den westlichen Industriestaaten seit mehr als 100 Jahren. Auch, weil Maschinen mehr und mehr erledigen. Das wird sich fortsetzen. Vier-Tage-Wochen würden, wie in den 1980er-Jahren die 35-Stunden-Woche, ermöglichen, Jobs zu erhalten - während der Corona-Pandemie und danach.

Deutsche Arbeitgeber und Gewerkschafter haben schon öfter zusammen Krisen bewältigt. Um die Jahrtausendwende schmiedeten sie Bündnisse für Arbeit, um die Industrie international wettbewerbsfähiger zu machen. Dies war neben dem Euro und Gerhard Schröders Agenda 2010 die Basis des Booms, der die Massenarbeitslosigkeit aus Deutschland vertrieben hat. Wenn die IG Metall jetzt trotz des dramatischen Wandels möglichst viele gut bezahlte Stellen sichert, indem sie dies mit den Unternehmen vereinbart, erweist sie den Industriearbeitern den größtmöglichen Dienst.

Für eine solche Lösung muss die Gewerkschaft schmerzliche Kompromisse eingehen. Vielen Firmen geht es wirklich schlecht. Viele brauchen Geld, um zu investieren. Deutliche Kostensteigerungen würden Jobs kosten. Konkret heißt das: Wo Vier-Tage-Wochen vereinbart werden, kann der Ausgleich für den ausfallenden Lohn erstmal nur gering ausfallen - mehr geht nach Corona. Und in gut laufenden Betrieben reichen zunächst Einmalzahlungen statt dauerhafter Lohnerhöhungen - mehr geht nach Corona. Die IG Metall müsste nun zeigen, dass sie ihre Mitglieder auf Jobsicherung einschwören kann. Sonst hat sie mit ihrer Vier-Prozent-Forderung einen Käfig gebaut, in dem sie sich selbst fängt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5111349
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/sana
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.