Zunächst habe sich nicht viel geändert - noch, sagt Serdar Üyüklüer. Wüsthof, ein Hersteller hochwertiger Messer, ist vor zwei Jahren aus dem Tarifvertrag ausgestiegen. Seitdem würde zwar weiter Tariflohn gezahlt, sagt der Geschäftsführer der IG Metall Remscheid-Solingen, die Beschäftigten haben ein Recht darauf, allerdings nur nach dem alten Tarifvertrag, der beim Austritt galt. Ob auch der neue Tarifvertrag vom vergangenen Herbst mit insgesamt 8,5 Prozent mehr Geld sowie Inflationsausgleichsprämien von 3000 Euro übernommen wird, darüber verhandle man noch mit Wüsthof, sagt Üyüklüer. Die Belegschaft sei nun "gespalten". Manche hätten in ihren Arbeitsverträgen Tariflohn garantiert, andere nicht. Und das Unternehmen biete denjenigen die Inflationsprämie an, die einen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben.
Allein in seinem Bezirk zählt Üyüklüer 20 von etwa 200 Betrieben, die in den vergangenen Jahren ihre Bindung an den Tarifvertrag gekündigt haben. Am Freitag legte das Statistische Bundesamt neue Zahlen vor: Nur noch knapp die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland, knapp 49 Prozent, waren 2022 noch in einem tarifgebundenen Betrieb tätig. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) stellt schon seit Jahren einen Rückgang der Tarifbindung fest. Nach Ihren Daten, die auf anderer Grundlage ermittelt werden, sank der Anteil der Beschäftigten in Tarifverträgen von 67 Prozent im Jahr 1996 auf 43 Prozent im vorvergangenen Jahr. Eine Trendumkehr sei nicht zu erwarten, heißt es beim IAB.
Die Entwicklung erscheint unaufhaltsam und schwer zu fassen, selbst Fachleute tun sich schwer, sie zu erklären. Denn sowohl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, als auch Unternehmen ziehen Nutzen aus der Tarifbindung. "Für Unternehmen haben Tarifverträge den großen Vorteil, dass sie Ruhe haben an der Lohnfront und der Verhandlungsaufwand geringer ist, als bei Einzelverträgen", sagt Claus Schnabel, Ökonom und Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Allerdings seien vielen Unternehmen ein Tarifvertrag zu starr, er passe nicht zu ihren Bedürfnissen. "Sie wollen lieber flexibel sein", sagt Schnabel.
Junge Unternehmen sind seltener bereit, auf Grundlage von Tarifverträgen zu arbeiten
Als ein wichtiger Faktor für das Schwinden der Tarifvertrag-Jobs gilt der Wandel der Wirtschaft weg von Industrie und produzierendem Gewerbe, hin zu Dienstleistungen. Während Gewerkschaften im Industrieunternehmen Tausende Beschäftigte vergleichsweise einfach ansprechen und für Streiks organisieren können, ist das beispielsweise in dutzenden über die Stadt verstreuten Physiotherapie-Praxen schwieriger. Eine bedeutende Rolle spiele zudem das Outsourcing, sagt Steffen Müller, vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). "Viele große Unternehmen lagern bereits seit Jahren Dienstleistungen aus wie Reinigung, Sicherheit und den Betrieb der Kantine." Diese Betriebe seien nicht mehr an Tarifverträge gebunden.
Hinzu kommt der Trend, dass junge Unternehmen seltener bereit sind, auf Grundlage von Tarifverträgen zu arbeiten als bestehende. Gerade Start-up-Unternehmer und ihre Beschäftigten halten Tarifverträge und Betriebsräte mitunter für überflüssig bis "uncool", zumindest, solange das Geschäft läuft und die Bezahlung ohnehin gut ist.
Welche Folgen hat dies für Beschäftigte? Spürbare Nachteile, heißt es vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Sie hatte Mitte April eine Studie vorgelegt. Demnach arbeiten Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben im Mittel wöchentlich 54 Minuten länger und verdienen trotzdem rund elf Prozent weniger als Beschäftigte in vergleichbaren Betrieben mit Tarifbindung.
Das sieht IWH-Experte Müller anders. Unternehmen mit Tarifbindung zahlten zwar höhere Löhne, aber sie seien auch "anders", sagt der Professor. "Der Hauptgrund für die höheren Verdienste ist nicht der Tarifvertrag, sondern die höhere Qualifikation der Beschäftigten und ihre Fähigkeit, besser zu bezahlen." Tariflosigkeit bedeute nicht automatisch schlechtere Bezahlung, sagt Müller. "Fast ein Drittel der Unternehmen ohne Tarifbindung orientiert sich am Tarifvertrag."
So wie der Solinger Messerhersteller Wüsthof - zumindest vorerst. IG-Metall-Mann Üyüklüer fürchtet, dass den Beschäftigten die Lohnsteigerungen des neuen Tarifvertrags nur noch "punktuell" angeboten werden. Zunächst gehe es nur um wenige Prozente. "Aber das läppert sich über die Jahre schnell zu 30 Prozent weniger Lohn." Hinzu komme: Über eine Betriebsvereinbarung sei es möglich, sogar schlechtere Bedingungen zu vereinbaren als laut altem Tarifvertrag gelten. Wüsthof äußerte sich auf Anfrage am Freitag nicht zu seinem Vorgehen.
"Die Leute haben in der wirtschaftlich schwierigen Lage Angst um ihren Arbeitsplatz"
Die Ampel-Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, die Tarifbindung zu stärken. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat vor Kurzem den Entwurf für ein Gesetz vorgelegt, dem zufolge Aufträge des Bundes nur noch an Unternehmen vergeben werden sollen, die nach Tarif bezahlen. Steffen Müller vom IWH würde sogar noch über den Entwurf von Heil hinausgehen. Man sollte staatliche Aufträge nicht nur an Tariflöhne, "sondern gleichzeitig auch an die Existenz eines Betriebsrates knüpfen", sagt er. In Unternehmen mit Betriebsrat seien die Arbeitsbedingungen und auch die Produktivität besser, ein Tarifvertrag allein garantiere das nicht. Arbeitsmarkt-Experte Schnabel dagegen hält nichts von zusätzlichen staatlichen Eingriffen. "Arbeitgeber und Gewerkschaften sollten selbst eine höhere Tarifbindung hinbekommen", sagt er.
Im Fall von Wüsthof hieße das: Die IG Metall müsste nun Druck machen, womöglich mit Streik drohen, um das Unternehmen wieder auf Tarifverträge zu verpflichten. "Aber die Leute sagen, wir haben im Moment keinen Nachteil. Und sie haben in der wirtschaftlichen schwierigen Lage Angst um ihren Arbeitsplatz", sagt Üyüklüer. Die Situation sei "absolut unbefriedigend".