Logistikexperte Raimund Klinkner:Das Schiedsrichterproblem

Der Weg der Ware bleibt dem Kunden oft verborgen. Raimund Klinkner, Chef der Bundesvereinigung Logistik, über das Negativimage der Branche - und spezielle Kundenwünsche.

Michael Kuntz

Der doppelte Vorstandsvorsitzende: Raimund Klinkner, 45, steht an der Spitze der Bundesvereinigung Logistik, die an diesem Mittwoch den Logistikkongress mit 3000 Teilnehmern in Berlin veranstaltet. Hauptberuflich ist Klinkner Topmanager beim Münchner Familienkonzern Knorr-Bremse, dem weltweit vertretenen Ausrüster von Nutzfahrzeugen auf Straßen und Schienen. Die Logistik ist der drittwichtigste Wirtschaftsbereich in Deutschland - sie wird dennoch in der Öffentlichkeit oft eher als Störfaktor wahrgenommen.

Raimund Klinkner: "Die Informationsflüsse, die den Warenflüssen vorausgehen, nimmt man nicht wahr."

Raimund Klinkner: "Die Informationsflüsse, die den Warenflüssen vorausgehen, nimmt man nicht wahr."

(Foto: ©Kai Bublitz)

SZ: Herr Professor Klinkner, Pakete kommen zu spät, man steht im Stau hinter vielen Lkws auf der Autobahn, ärgert sich über ein Paketauto, das in der zweiten Reihe parkt. Muss das sein?

Raimund Klinkner: Die Logistik hat das Schiedsrichterproblem. Wenn der Richter alles richtig macht, dann nimmt man ihn gar nicht wahr. Wenn er auffällt, dann in einem negativen Kontext. So ist es auch mit der Logistik. Es ist selbstverständlich, wenn sämtliche Regale in den Supermärkten immer mit frischster Ware gefüllt sind, wenn die Zeitung pünktlich genau zum richtigen Kunden kommt. Die Logistik ist selten der Engpass, sie liefert oft Spitzenleistungen. In der Autoproduktion etwa wird aus 600.000 Sitzvarianten genau die richtige Garnitur minutengenau und synchron an das Fließband geliefert.

SZ: Was man nicht sieht, kann man nicht gut finden?

Klinkner: Logistik wird wahrgenommen als Transport, Umschlag und Lagerung. Das macht aber nur etwa ein Drittel aus. Planung, Steuerung und das Controlling machen die Intelligenz der Logistik aus. Die Informationsflüsse, die den Warenflüssen vorausgehen, die nimmt man nicht wahr. Die Logistik ist viel umfassender und leistungsfähiger, als viele wahrnehmen.

SZ: Wenn alles angeblich so perfekt abläuft, warum gibt es dann so wenig übergreifende Lösungen. Warum wird ein Geschäft in der Stadt nicht längst von nur einem Lkw beliefert?

Klinkner: Das gibt es doch längst. Die Citylogistik arbeitet seit den 80er Jahren erfolgreich, aber leise. Ein spektakuläreres Beispiel: Zwischen 1993 und 2002 war die Bebauung des Potsdamer Platzes in Berlin die größte Baustelle in einer Innenstadt in Deutschland. Dort sind sämtliche Gewerke in enger Koordination nebeneinander und übereinander nicht getrennt ver- und entsorgt worden, sondern in einer konzertierten Aktion. Ohne diese erstmals umgesetzte Baustellenlogistik mit Güterzügen und Lastwagen wäre das Projekt Potsdamer Platz nicht möglich gewesen.

SZ: Ein Beispiel aus neuerer Zeit?

Klinkner: In Frankfurt entstand im vergangenen Jahr das Palaisquartier mit 800 beteiligten Firmen. Ein ganz ähnlicher Ansatz wie in Berlin führte dazu, dass die Baustelle zwei Monate schneller beendet war und ein Viertel weniger Emissionen ausgebracht hat als ohne Baustellenlogistik. Wir wollen eine ideologiefreie Diskussion. Es geht nicht um Straße versus Bahn sondern um die intelligente Kombination verschiedener Verkehrsträger.

SZ: Sind Logistiker vor allem kreativ, wenn es darum geht, ihre eigenen Kosten zu senken? Zum Beispiel durch den Einsatz schlecht bezahlter Mitarbeiter?

Klinkner: Der Wirtschaftsbereich Logistik ist nach Automobilindustrie und dem Handel die drittgrößte Branche in Deutschland mit 2,7 Millionen Beschäftigten und über 200 Milliarden Euro Umsatz. In der Diskussion um den Standort Deutschland geht es oft um Innovationen und hochanspruchsvolle Arbeitsplätze etwa für Ingenieure. Die Logistikbranche ist aber eine der wenigen, wenn nicht die einzige, die noch neue Arbeitsplätze schafft im Basis- wie im Hochlohnbereich. Das ist doch sehr positiv.

SZ: Und die vielen Subunternehmer?

Klinkner: Viele Branchen konzentrieren sich auf ihre Kernkompetenz. Unternehmen übertragen logistische Dienstleistungen an logistische Dienstleister. In diesem Bereich werden oft Zusatzaufgaben übernommen. Wir sprechen von Kontraktlogistik. Dabei geht es um kundenindividuelle Wertschöpfungen. Eine Kleiderkollektion wird zum Beispiel auf dem Verkaufsständer sortiert angeliefert. Oder sterile Operationsbestecke direkt in den OP-Saal. Hierfür gibt es in der Tat Spezialisten, die vielfach als Subunternehmer tätig sind.

"Der Kunde ist der Souverän"

SZ: Wirtschaftlich besonders erfolgreich scheinen Logistiker zu sein, denen es gelingt, möglichst viel Arbeit durch den Kunden erledigen zu lassen. Der darf sein Paket irgendwo selbst abholen, weil die Lieferung innerhalb eines Fenster von 15 Minuten nicht vorgesehen ist.

Klinkner: Logistikdienstleister wären in der Lage, sogar ein Zeitfenster im Bereich weniger Minuten exakt zu treffen. Es muss dann eben der Aufwand dahinter vom Kunden bezahlt werden. Es wird geliefert, was der Kunde nachfragt und bezahlt. Übrigens ist die Packstation, bei der ich 24 Stunden an mein Paket komme, bei Berufstätigen sehr nachgefragt.

SZ: Logistische Dienstleistungen werden wichtiger in einer alternden Gesellschaft. Was gibt es da für neue Ansätze?

Klinkner: Neben der Globalisierung ist die Individualisierung eine zentrale Herausforderung für die Logistik. In den etablierten Ökonomien und in den Schwellenländern kommt noch die Urbanisierung hinzu. Die Logistik muss sich den individuellen Bedürfnissen anpassen. Wir haben vor einigen Jahren die Firma Anzag mit dem Logistik-Preis ausgezeichnet, weil sie es schafft, 12.000 Apotheken mit Kleinstmengen mehrfach täglich zu beliefern. Auch Würth, der Preisträger 2009, wurde für ein höchst individualisiertes Logistiksystem ausgezeichnet.

SZ: Ist das schon alles?

Klinkner: In Krankenhäusern können auch die Betten und die Dokumente der Patienten als logistische Einheiten aufgefasst werden und mit der gleichen Prozessqualität informationstechnisch als auch physisch bearbeitet werden. Die logistische Infrastruktur dafür ist in Deutschland vorhanden.

SZ: Kein Wunder - hier stehen ja auch so viele Ausbildungsstätten für Logistik wie nirgendwo sonst?

Klinkner: Es gibt 180 Universitäten, Fachhochschulen und Berufsakademien, die sich mit dem Thema Logistik beschäftigen. Eine Folge dieser guten Grundqualifikation ist es, dass die Logistikkosten in der Industrie in Deutschland um 70 Prozent unter denen in China oder Indien liegen. Das sagt einiges darüber aus, wie effizient hier gearbeitet wird.

SZ: Logistik steht aber auch für eine Kultur der Verschwendung. Krabben werden zum Pulen nach Marokko gebracht, Kartoffeln zum Schälen über die Alpen gefahren, Joghurts unternehmen Fernreisen. Viele Menschen fragen sich, ob so etwas sein muss. Nicht ohne Grund sind regionale Produkte auf dem Vormarsch.

Klinkner: Der Kunde ist der Souverän. Was er nachfragt, wird logistisch abgewickelt.

SZ: Das rechtfertigt das Pulen von Nordseekrabben in Nordafrika?

Klinkner: Meines Wissens ist das ein Mythos. Inzwischen pult die Krabbenpulmaschine unmittelbar vor Ort. Der Kunde ist wie bereits erwähnt der Souverän, wenn er seine Nachfrage umstellt, ändert sich etwas: Ein gutes Beispiel sind die Frühstückseier aus der Bodenhaltung. Da hat der Kunde sein Verhalten umgestellt. Man muss bei der Sensibilisierung des Verbrauchers ansetzen und sollte nicht mit dem Finger auf den Spediteur zeigen. Der freut sich, wenn er nach der Wirtschaftskrise einen Auftrag bekommt.

SZ: Aber manche Transporte finden nur statt, weil logistische Leistungen zu preiswert sind - oder nicht?

Klinkner: Der Preis ist eine Frage der Marktverhältnisse. Hier gelten wirtschaftliche Grundsätze: Wer nutzt, zahlt. Wer viel nutzt, zahlt viel. Wer Engpassleistungen nutzt, zahlt mehr. Wenn ein Überangebot da ist, kostet es weniger. So entsteht Selbstregulation und das System verstetigt sich. Wer zur Unzeit Dinge aktiviert, für den werden sie teuer. Dann fragt sie der Kunde nicht mehr nach.

SZ: Wenn das funktioniert, dann wäre ein differenziertes Mautsystem also sinnvoll?

Klinkner: Klar, es wäre sehr sinnvoll. Aber die Einnahmen, die so generiert werden, müssen wieder der Infrastruktur zufließen. Jeder so investierte Euro kommt mit vier Euro volkswirtschaftlichem Nutzen zurück.

SZ: Deutschland gilt als Logistikweltmeister. Wie lange noch? Werden China und Indien bald die wichtigsten Logistiknationen sein? Sind sie es vielleicht längst?

Klinkner: Für die Weltbank ist Deutschland der Logistikweltmeister. Das zitieren wir natürlich gern: Hervorragende Ausbildung von Logistikern, sehr gute physische Infrastruktur, aber auch mindestens genauso gute Kabel- und Funknetze. Die brauchen wir, weil jedem Materialfluss ein Informationsfluss vorausgeht. Das ergibt eine hervorragende Positionierung. Ich sehe Deutschland dauerhaft an der Spitze. Der deutsche Logistiker arbeitet seit Jahren in internationalen Wertschöpfungsketten, sei es in China, Indien, Brasilien oder Russland.

SZ: Was bedeutet Logistik in zehn Jahren?

Klinkner: Die Globalisierung geht weiter. Die ökologischen Notwendigkeiten werden eine größere Rolle spielen als heute. Wir werden eine alternde Gesellschaft in den etablierten Ökonomien haben, in den neuen Volkswirtschaften junge aufstrebende Gesellschaften, die oft in Megacitys wohnen.

SZ: Die Welt wird komplizierter?

Klinkner: Logistiker werden sich stärker um individualisierte Kundenwünsche kümmern müssen und noch flexibler werden als heute schon. Wir müssen intelligent wachsen. Je effizienter eine Logistik ist, desto weniger Ressourcen verbraucht sie. Damit ist eine effiziente Logistik auch immer eine grüne, oder besser: nachhaltige Logistik.

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