Süddeutsche Zeitung

Automobilindustrie:Ausgerechnet VW torpediert härtere Abgasziele

  • Die europäische Autoindustrie hat in Brüssel massiv gegen höhere CO₂-Grenzwerte lobbyiert - und zwar mit Erfolg.
  • Die EU-Kommission hat ihre ursprünglichen Pläne deutlich gelockert. Sanktionen für Autohersteller wird es nicht geben, ebenso wenig wie eine Quote für Elektroautos.
  • Allen voran VW bot an, gleich mehrere EU-Kommissare von lascheren Grenzwerten zu überzeugen.

Von Markus Balser, Berlin, Max Hägler, Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer, Brüssel

Die Angst war groß, doch jetzt haben sie Gewissheit: Sie können es noch. Die Lobbyisten der europäischen Autoindustrie haben sich durchgesetzt und die von der EU-Kommission geplanten Abgasvorschriften deutlich abgeschwächt. Wenn die Brüsseler Behörde an diesem Mittwoch ihre Vorschläge präsentiert, können vor allem die deutschen Hersteller jubeln. Trotz Dieselskandals haben sie es geschafft, eine wichtige umweltpolitische Vorgabe für die nächsten Jahre zu verwässern: die neuen CO₂-Grenzwerte für Autos in Europa bis zum Jahr 2030.

Nur wenn die Grenzwerte ehrgeizig genug sind, lassen sich die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreichen. Doch die Kommission ist von ihren ursprünglichen Plänen abgerückt und verzichtet grundsätzlich auf Sanktionen, sollten die Hersteller die gesetzten Ziele nicht erreichen. Der CO₂-Ausstoß ist direkt abhängig vom Verbrauch, da Kohlenstoff in Benzin und Diesel gebunden ist. Bei Neuwagen soll der Ausstoß, wie in Brüssel am Dienstag zu hören war, bis 2025 um 15 Prozent gegenüber dem Stand von 2021 reduziert werden, bis 2030 sollen es 30 Prozent sein. Ursprünglich waren 25 bis 35 Prozent geplant (unklar ist noch, ob als Vergleichsbasis der tatsächliche oder der jetzt schon empfohlene Ausstoß von 95 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer dient).

Zudem will die Kommission auf eine verbindliche Quote für Elektro- und andere emissionsarme Fahrzeuge verzichten. Stattdessen soll es ein Anreizsystem geben. Es würde Firmen belohnen, wenn sie viele Fahrzeuge herstellen, die weniger als 50 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer ausstoßen. Enthält ihre Flotte bis 2025 mindestens 15 Prozent und bis 2030 mindestens 30 Prozent solcher Fahrzeuge, müssen sie insgesamt niedrigere CO₂-Ziele erreichen. Emissionsfreie Autos mit Elektro- oder Wasserstoffantrieb werden stärker angerechnet als Hybridmodelle.

Diese Werte könnten sich in der Sitzung der EU-Kommissare am Mittwochmorgen noch ändern. Das Kollegium ist in dieser Frage gespalten. Während Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska und Verbraucherkommissarin Věra Jourová seit Auffliegen des VW-Skandals auf härtere Maßnahmen gegenüber den Autoherstellern dringen, ist die Spitze der Kommission offenbar sehr viel nachsichtiger mit der bedeutenden europäischen Industrie. Wie es aussieht, war ein Anruf von Deutschlands oberstem Auto-Lobbyisten, Matthias Wissmann, beim Kabinettschef von Jean-Claude Juncker, Martin Selmayr, von Erfolg gekrönt. Selmayr dementiert den Zusammenhang. Aber auch der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger agierte ganz im Sinn der Autoindustrie. Und die gab in den vergangenen Wochen mächtig Gas, um Schlimmeres zu verhindern.

Als hätte es den Abgasskandal nie gegeben, machte nach Informationen der Süddeutschen Zeitung besonders der deutsche Volkswagen-Konzern Front gegen schärfere Umweltgesetze und schaltete sich vertraulichen Dokumenten zufolge auf höchster Ebene ein. Nach Absprachen mit dem europäischen Lobbyverband ACEA sollte VW mit den Kommissaren Oettinger (Haushalt), Hahn (EU-Erweiterung) aus Österreich und Moedas (Forschung und Innovation) aus Portugal in Kontakt treten.

Zudem "könnte sich der Volkswagen-Konzern zusätzlich bei der Kommunikation beispielsweise mit den Kommissaren aus den Mitgliedstaaten Tschechien, Ungarn oder Spanien einbringen", heißt es in dem Strategiepapier weiter - alle Länder sind wichtige VW-Standorte. Intensives Beackern der Spitzenpolitiker tat aus Sicht des Unternehmens offenbar not. "Die Zielwertforderungen der NGOs für 2030 sind extrem", schreiben die Konzernstrategen. Es drohten "extrem hohe Strafzahlungen" oder gar "Zulassungsverbote". Der eigene Branchen-Vorschlag von minus 20 Prozent bis 2020 sei "für die Politik nicht ausreichend", schwant VW.

Die Autoindustrie agiert in Brüssel immer noch sehr selbstbewusst

Das Papier zeigt, wie selbstbewusst die Branche noch immer in Brüssel agiert. Sie sieht sich bei den politischen Entscheidungen nach wie vor mit am Steuer. Für die Einführung einer E-Auto-Quote stellt VW sogar Bedingungen. Sie komme als "politisches Tauschgeschäft" nur infrage, wenn verbindliche CO₂-Ziele erst für 2030 und nicht schon für 2025 fest gelegt würden. Außerdem müsse eine Übererfüllung der Quoten den Hersteller beim CO₂-Ziel entlasten. Dies dürfte nun tatsächlich Teil des Kommissionsvorschlags werden. VW dementiert die Angaben nicht. Die Autobauer hatten in den vergangenen Monaten Gespräche mit verschiedenen Kommissaren. Am Dienstag kritisierten deutsche Hersteller selbst die abgeschwächten Pläne noch als zu strikt: Der Aufbau alternativer Antriebe müsse an den Aufbau eines Ladenetzes gekoppelt werden.

Die europäische Umweltorganisation Transport & Environment forderte indes ein Umdenken in Brüssel. Nach all den Skandalen dürfe die Branche nicht Europas Autopolitik bestimmen, warnte der Chef der NGO, William Todts. Grüne Politiker nannten eine Reduktion der Emissionen um 60 Prozent bis 2030 als sinnvolles Ziel. Es bestehe nun die Gefahr, sagte die Abgeordnete Rebecca Harms, "dass die Herstellung von Elektroautos dazu benutzt wird, künftig noch viel größere Dreckschleudern als bisher bauen zu dürfen". Die Politik müsse der Industrie dringend eine feste Quote für E-Autos vorgeben, sagte der Abgeordnete Claude Turmes. Anders als von der Industrie dargestellt, seien ehrgeizige Ziele bei der Elektromobilität technisch machbar.

Auch in der Bundesregierung wird über die Abgasvorgaben gestritten. Der amtierende Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) warnte vor zu scharfen Vorgaben. Die Autobranche sei eine Schlüsselindustrie für Deutschland und weltweit Garant für Arbeitsplätze und Wachstum, heißt es in einem Brief Gabriels an EU-Kommissionspräsident Juncker. Umweltweltministerin Barbara Hendricks (ebenfalls SPD) zeigte sich empört. Das Schreiben sei in der Sache falsch und nicht abgestimmt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3738874
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.11.2017/vit
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.