Süddeutsche Zeitung

Lobbyarbeit im Datenschutz:Ex-Kommissar auf schräger Mission

Ein EU-Abgeordneter wollte den Datenschutz aufweichen, wie es der Industrie gefällt. Vollends skurril wurde es, als er beteuerte, "die Änderungsanträge nie gesehen, gekannt oder unterschrieben" zu haben. Schuld soll sein Assistent sein.

Von Javier Cáceres, Brüssel

Eine Lobby-Affäre rund um den früheren EU-Kommissar und ehemaligen belgischen Außenminister Louis Michel wirft einen Schatten auf die Arbeit des Europaparlaments zur geplanten Datenschutzreform. Wie belgische Medien berichteten, wurden im Namen des heutigen liberalen Europaabgeordneten Michel mehr als 100 Änderungsanträge eingebracht, die das Datenschutzniveau tendenziell absenken sollten und nach Recherchen der Plattform "Lobbyplag" auf Interventionen der Industrie zurückzuführen waren.

Vollends skurril wurde es aber, als Michel im belgischen Fernsehen beteuerte, "die Änderungsanträge nie gesehen, gekannt oder unterschrieben" zu haben. Sie seien vielmehr das Werk seines "übereifrigen" Assistenten Luc Paque gewesen. Dieser hat auch mittlerweile die Verantwortung übernommen und seinen Rücktritt als Michel-Assistent erklärt. Der für die Datenschutzreform zuständige Berichterstatter im Europaparlament, Jan-Philipp Albrecht (Grüne), zeigte sich im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung enttäuscht. Die Affäre belege, dass die Warnungen über massive Einflussnahmeversuche der Industrie "mehr als berechtigt" waren.

Über die Ausgestaltung der neuen europäischen Datenschutzregeln, die noch von den Regierungen der 28 EU-Staaten gebilligt werden muss, wird seit fast zwei Jahren gestritten. Der entsprechende Verordnungsvorschlag war im Januar 2012 von Justizkommissarin Viviane Reding vorgelegt worden, danach erarbeiteten die Europaabgeordneten 4000 Änderungsanträge - von denen viele erwiesenermaßen die Handschrift der Industrie trugen. Vor wenigen Wochen stimmten die Parlamentarier Kompromisse zu jedem einzelnen der mehr als 100 Verordnungsartikel ab - und legten so ihre Position für die noch nicht terminierten Verhandlungen mit den Regierungen fest.

"Die Änderungsanträge Michels hatten Einfluss"

Den fraktionsübergreifenden Charakter ebendieser Kompromisse führt Albrecht als Beleg dafür an, "dass im Prinzip kein einziger Änderungsantrag, egal von welchem Abgeordneten, eins zu eins übernommen wurde" - also auch keiner von Michel. Völlig steril seien sie aber nicht gewesen: "Die Änderungsanträge Michels hatten Einfluss auf zentrale Punkte der Debatte, beispielsweise zur Frage, in welchem Umfang die Verbraucher geschützt werden müssen." Diverse Abgeordnete hätten bei den Beratungen ausdrücklich auf Michels Argumente verwiesen.

Die Versicherung Michels, von den Machenschaften seines Mitarbeiters nichts gewusst zu haben, hält Albrecht prinzipiell für plausibel. Sie passt auch zu dem offenen Geheimnis, wonach Europaparlaments-Mitarbeiter schon mal ohne Wissen ihrer jeweiligen Abgeordneten Änderungsanträge einbringen - was dem einen oder anderen Parlamentarier schon mal zur Ehre gereicht.

Technisch ist das überaus einfach, vor allem, weil es längst möglich ist, Änderungsanträge auf elektronischem Wege einzubringen. Zwecks Beglaubigung muss zwar ein Fax mit einer eigentlich handschriftlichen Unterschrift hinterhergeschickt werden. Mitunter sind diese Autogramme aber nur vermeintlich handschriftlich. Möglich ist etwa, dass ein Unterschriftenstempel benutzt wird - oder ein Antrag direkt vom Mitarbeiter unterzeichnet wird. Ob mit oder ohne Einverständnis des jeweiligen Parlamentariers - für den Empfänger ist in jedem Fall unklar, ob die Unterschrift wirklich vom Abgeordneten stammt. "Dies ist ein Problem und muss dringend geändert werden", sagt Albrecht.

Er schlägt daher vor, dass Anträge künftig von Fraktionen und nicht mehr nur individuell von Abgeordneten eingebracht werden. Schließlich dürften sich Parlamentsmitarbeiter den Wählern gegenüber weniger verantwortlich fühlen als die Abgeordneten selbst. Sie seien daher möglicherweise auch anfälliger für die Verlockungen von Lobbyisten. Jedenfalls müsse im Fall Michel "der Verdacht, dass da einem Mitarbeiter versprochen wurde, er müsse sich keine Sorgen machen, falls er seinen Job im Europaparlament verlieren sollte, erst mal ausgeräumt werden", sagt Albrecht.

Weitergehende Konsequenzen drohen vorerst nicht

Paque selbst sagte, er habe "unüberlegt" gehandelt. Die Änderungsanträge habe er "in gutem Glauben" und nur deshalb hinter Michels Rücken eingebracht, weil der Chef auf Reisen und nicht erreichbar war, als die Frist für die Anträge ablief.

Weitergehende Konsequenzen drohen Michel und seinem Assistenten vorerst nicht. Albrecht selbst sagt, dass Michel aber mindestens der Vorwurf gemacht werden müsse, keine Kontrolle über die Änderungsanträge gehabt zu haben, die in seinem Namen zirkulieren. Auch der belgische Christdemokrat Ivo Belet will nicht den Stab über Michel brechen. Er sagte nur, dass Abgeordnete grundsätzlich keine Änderungsanträge zu Angelegenheiten einbringen sollten, die ihnen fremd sind.

Sehr viel energischer zeigte sich da die Nichtregierungsorganisation "Corporate Europe Observatory" . Sie hält die Erklärung Michels, nichts von den Anträgen gewusst zu haben, für unglaubwürdig. In einem Brief fordert sie vom Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), eine Prüfung, ob Michel den Verhaltenscode der Abgeordneten verletzt hat.

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SZ vom 25.11.2013/sana
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