Süddeutsche Zeitung

Lob der Kritik:Widersprechen Sie Ihren Chefs!

Führungskräfte wie Google-Chef Sundar Pichai sollten froh sein über jeden Mitarbeiter, der gegen sie aufbegehrt - denn das macht ein Unternehmen besser.

Kommentar von Helmut Martin-Jung

Stell dir vor, es gibt einen Riesenskandal in einem Konzern - und kein Mitarbeiter muckt auf. Kommt einem irgendwie bekannt vor? Ja, genau. Die deutsche Autoindustrie, allen voran VW, hat ihren Kunden jahrelang mit Schummelsoftware dreckige Dieselmotoren als sauber untergejubelt und zahlt nun gerade einmal so viel, wie sie muss. Was in Europa ziemlich wenig ist. Von Mitarbeitern, die gegen solche Praktiken aufbegehren, die kritisch nachfragen, hat man indes nicht allzu viel gehört.

Gut möglich, dass sich die Google-Oberen das zurzeit auch wünschen. Mehr als tausend ihrer Leute haben gegen die Pläne des Internet-Konzerns protestiert, die Google-Suche in China wieder anzubieten - und zwar mit eingebauter Zensur nach Pekinger Gusto. Doch eigentlich sollte der Konzern sich das nicht wünschen. Er sollte ganz im Gegenteil froh sein, dass er Mitarbeiter beschäftigt, die sich trauen, ihre Meinung zu sagen. Und Unternehmen sollten eine solche Kultur des Aufbegehrens fördern, statt sie wie viel zu oft zu unterdrücken.

Es geht dabei um zweierlei. Erstens: Kritische Mitarbeiter können ein gutes Korrektiv sein für Entscheidungen. Nicht selten werden die von Menschen getroffen, die abgekapselt in ihrer Welt leben. Die nur noch ihre Zahlen und ihre Charts sehen und denen euphemistische Umschreibungen für harte Maßnahmen zur zweiten Natur geworden sind.

Zweitens: Mitarbeiter, die quer denken, die zu widersprechen wagen, sind für die Weiterentwicklung jedes Unternehmens, ja für jedes Team, ein Gewinn. Keine Chefin, kein Chef entscheidet immer richtig. Wer aber nur von Jasagern umgeben ist, verzichtet auf wertvolle Anregungen und trifft in der Summe schlechtere Entscheidungen.

Natürlich dürfen Ein- und Widerspruch nicht zum Querulantentum werden. Auch das kennen die meisten aus ihrem beruflichen Umfeld: In nahezu jeder Abteilung einer Firma gibt es eine Person, die weniger durch Leistung als durch ständiges Herumnörgeln an allem und jedem auffällt. Das bringt niemanden weiter, sondern wirkt sich vielmehr oft negativ auch auf die übrigen Teammitglieder aus. Solch ein Verhalten sollten Führungskräfte deshalb keinesfalls dulden. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für Dinge wie üble Nachrede und geschäftsschädigendes Verhalten. Konstruktive Widerrede dagegen sollte kein Chef und keine Chefin abwürgen.

Die Zeit der streng von oben nach unten regierten Firmen ist vorbei

Die Unterdrückung kritischer Gegenstimmen geschieht übrigens nicht nur durch direkte Kommunikation ("Ende der Debatte!"), sondern auch nonverbal und vor allem durch ein generelles Klima, das es für viele Mitarbeiter schwer macht, eine abweichende Meinung zu äußern. Besonders schwer haben es Mitarbeiter, die von ihrem Naturell her eher leise und zurückhaltend sind. Ihnen, oft sind es Frauen, Raum zu geben, sie sogar dazu aufzufordern, ihre Stimme zu erheben, ist ein Zeichen guten Führungsstils und bringt - konsequent angewendet - Unternehmen nach vorne.

Ist das alles super-einfach und überhaupt nicht anstrengend? Nein, das ist es nicht. Vor allem nicht in einer Zeit, in der es so leicht fällt wie noch nie, Dinge öffentlich zu machen. Ein Tweet, ein Posting, und die Sache ist in der Welt. Auch die Mitarbeiter tragen deshalb Verantwortung dafür, was sie öffentlich machen, was nicht und wie sie das tun. Ein Unternehmen, das eine Kultur der Offenheit pflegt, das kritikfähig ist, wird aber auch in erheblich geringerem Maße befürchten müssen, dass Mitarbeiter die Öffentlichkeit suchen, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Die Zeit der streng von oben nach unten regierten Firmen, sie ist eigentlich vorbei. Nur haben das noch nicht alle gemerkt.

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Quelle:
SZ vom 18.08.2018/vit
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