Linde:Ein Mann, ein Weg

Mit aller Macht will Wolfgang Reitzle den Münchner Konzern Linde mit dem US-Rivalen Praxair verschmelzen. Kritiker unterstellen ihm persönliche Motive. Er bestreitet das - und sucht nach einer Lösung.

Von Karl-Heinz Büschemann

Wolfgang Reitzle ist anzusehen, wie sehr ihm die Kritik zusetzt. Den Mann, der stets soigniert auftritt, sieht man jetzt häufig mit rotem Kopf. Der 68-jährige Aufsichtsratschef von Linde fühlt sich missverstanden. Er glaubt etwas Richtiges zu tun, aber von allen Seiten wird er nun attackiert, weil er Linde mit dem US-Konzern Praxair verschmelzen will. Er sei machtgierig, verkaufe einen Traditionskonzern mit 65 000 Beschäftigten an die Amerikaner und entscheide über die Aktionäre hinweg, lauten die Vorwürfe. Die Gewerkschaften bezichtigen den Manager sogar, den sozialen Frieden im Lande zu gefährden.

"Es kann keine Fusion gegen den Willen der Beschäftigten geben", sagt ein Gewerkschafter

Der Widerstand gegen die Pläne Reitzles, der zu den bekanntesten Wirtschaftsvertretern in Deutschland zählt, ist massiv. Er sieht in dem Zusammenschluss mit Praxair hingegen nur Vorteile: "Der Deal ist für die Aktionäre extrem gut, und die Arbeitnehmer bekommen eine Beschäftigungssicherung für fünf Jahre." Wo bitte sei das Problem?

Am kommenden Mittwoch muss Reitzle den Aktionären auf der Hauptversammlung sein Vorhaben erläutern. Der 66 Milliarden Dollar schwere Zusammenschluss regt die Gemüter so sehr auf, dass Mitarbeiter vor der Linde-Zentrale am Viktualienmarkt dagegen demonstrierten. "Es kann keine Fusion gegen den Willen der Beschäftigten geben", schimpft der bayerische IG Metall-Chef Jürgen Wechsler.

Reitzle hatte zuvor einen taktischen Fehler gemacht. Er hatte der Financial Times gesagt, er werde diese Fusion im Aufsichtsrat auch gegen die Stimmen der Arbeitnehmer durchsetzen und seine entscheidende Zweitstimme ziehen. Das gilt in der deutschen Mitbestimmungs-Kultur zwischen Arbeitnehmern und Kapitalseite als Sakrileg. Seitdem steht Reitzle auf der Liste der Gewerkschaftsfeinde ganz oben. Die IG Metall will es ihm zeigen.

Auch Aktionäre sind sauer, sie fühlen sich von dem Machtmanager überfahren und drohen mit Klagen. Politiker stellen besorgte Fragen. Und nicht einmal im eigenen Management hatte Reitzles Plan die volle Unterstützung. "Innerhalb des Vorstands, aber auch im Aufsichtsrat" sei das Vorhaben "stark umstritten" gewesen, heißt es in einem internen Papier der Linde-Anwälte. Die Hauptversammlung könnte turbulent werden.

Reitzle hat sich in eine Misere bugsiert, aus der er kaum noch ohne Schaden herauskommt. Zieht er seinen Plan durch, werden ihn die Gewerkschaften zum Totengräber der Mitbestimmung erklären, die auch von Wirtschaftsmanagern als Garantie für sozialen Frieden gesehen wird. Zieht er den Plan zurück, steht er als Verlierer da. Linde könnte selbst zum Übernahmekandidaten werden.

Die Wahl zwischen einer schlechten und einer ganz schlechten Lösung mag kein Manager, schon gar nicht Reitzle.

Der muss gelegentlich vom Tisch aufstehen und dozierend in seinem Büro herumgehen, wenn er erklärt, warum es für die Fusion mit den Amerikanern aus seiner Sicht keine Alternative gibt. Praxair sei "ein Top-Unternehmen", schwärmt Reitzle. "Wir haben es immer bewundert." Man werde gemeinsam den Weltmarktführer für Industriegas schaffen. Das ist sein Traum. Und gut für die Aktionäre sei die Sache auch. Eine in Amerika notierte Aktie, so Reitzle, habe "automatisch einen zehn bis 20 Prozent höheren Wert".

Linde

Die Fusion mit Praxair sollte die Karriere von Linde-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle krönen. Jetzt könnte der Plan sein Lebenswerk überschatten.

(Foto: Frank Leonhardt/picture alliance/dpa)

Reitzle ist ein Mann der Zahlen, des Wachstums, des Erfolgs, der internationalen Märkte. Sorgen der Belegschaft? Wozu? Seine Logik sagt etwas anderes: Wenn Linde diesen Zusammenschluss nicht eingeht, sind bei den Münchnern noch mehr Jobs gefährdet.

Doch die Mitarbeiter sind skeptisch. Steve Angel, der als harter Hund bekannte Chef von Praxair, hatte klargemacht, das neue Unternehmen werde von den USA aus geführt werden, und zwar von ihm. Damit wäre München nur noch eine Nebenstelle. Reitzle ist zwar für die Rolle des Chairman vorgesehen, die in US-Unternehmen stärker ist als die eines deutschen Aufsichtsratschefs. Aber er wäre nach ein paar Jahren in Rente, und was dann?

Keine Sorge, sagt der Mann mit dem sorgfältig geföhnten Haar und dem Menjou-Bärtchen. Er malt Bildchen auf den vor ihm liegenden Block und erläutert, was er für Linde in den Jahren von 2003 bis 2014 bewegt habe, als er Vorstandsvorsitzender war. Es gebe keinen Grund, an seiner Kompetenz zu zweifeln. Im Gas-Geschäft kenne er sich aus. Er habe den Börsenwert des Dax-Konzerns Linde von 2,7 Milliarden auf 27 Milliarden Euro verzehnfacht und aus der grauen Maus unter Deutschlands Konzernen ein glänzendes Unternehmen geformt. Noch Fragen?

Reitzle ist an Erfolg und Bewunderung gewöhnt. Er spielt seit drei Jahrzehnten in der Spitzenliga der deutschen Manager und wurde schon als Wunderkind gefeiert, als er mit noch nicht mal 40 Jahren im BMW-Vorstand saß. Als junger Mann liebte er es, hin und wieder in Klatschblättern zu erscheinen, er redete stolz über sein super Golf-Handicap, machte Schlagzeilen, weil er mit der Fernsehmoderatorin Nina Ruge verheiratet ist und zur Münchner Society gehört. Aber stolz ist er vor allem auf seine Arbeit bei dem Gaskonzern, der vor seiner Zeit kaum Beachtung fand und zu einem der angesehensten Unternehmen Europas wurde. Das verschaffte ihm den höchsten Respekt in der Industrie.

Und jetzt droht der Praxair-Plan, der seine Karriere krönen sollte, sein Lebenswerk zu überschatten. Er sei zu ambitioniert, heißt es über Reitzle, er könne nicht loslassen, wolle unbedingt weiter im internationalen Business-Monopoly mitspielen. Das ärgert ihn.

An diesem Bild hat er allerdings selbst kräftig mitgewirkt. Nach zwölf Jahren an der Linde-Spitze hatte er 2014 versucht, nahtlos auf den Stuhl des Aufsichtsratschefs zu wechseln. Doch es gab Kritik an diesem nur in Ausnahmefällen erlaubten Vorgehen. Typisch Reitzle, hieß es damals. Der Macher knickte ein. Heute sagt er lapidar: Er habe immer mit 65 Jahren aufhören wollen: "Ich hatte nicht mehr vor, zurückzukommen." Den Posten des Aufsichtsratschefs von Linde habe er im Mai vergangenen Jahres nur übernommen, weil er gedrängt worden sei. Das allerdings glauben in der deutschen Wirtschaft nur wenige.

Linde-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle

"Der Deal ist für die Aktionäre extrem gut, und die Arbeitnehmer bekommen eine Beschäftigungssicherung für fünf Jahre."

Der neue Job aber entpuppte sich als schwieriger, als Reitzle es sich gedacht hatte. Dass er die Arbeitnehmervertreter nicht rechtzeitig von seinen Praxair-Plan überzeugt hat, sieht aus wie ein Kunstfehler. Ein Mann mit jahrzehntelangen Erfahrung als Industriemanager muss wissen, dass in Deutschland wichtige Entscheidungen ohne die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nicht zu durchzusetzen sind.

Die Macht der IG Metall war sogar zum Trauma des Managers Reitzle geworden. Schon 1993 bei BMW hat die mächtige IG Metall daran mitgewirkt, dass dieser viel zu schneidige junge Herr nicht zum Chef des Autokonzerns wurde. So war es, als nach der Korruptionskrise vor einem Jahrzehnt der Siemens-Konzern einen guten Aufsichtsratsvorsitzenden brauchte. Wieder war die Metall-Gewerkschaft gegen den Kandidaten Reitzle, der ihr zu selbstbewusst war. Aus diesen Erfahrungen hat Reitzle offenbar keine Schlüsse gezogen.

Bei Linde knallt er wieder mit den alten Widersachern zusammen und inzwischen sind die Fronten verhärtet. Kurios ist, dass die Arbeitnehmerseite bei Linde dem Praxair-Plan im Aufsichtsrat am Anfang zugestimmt hatte. Reitzle hatte den 8000 deutschen Linde-Beschäftigten eine fünfjährige Beschäftigungsgarantie gegeben. Doch irgendwann schwenkten sie um.

Sie nutzten eine Schwäche, für die Reitzle selbst eine Mitschuld trägt. Der Manager war in Verdacht geraten, verbotene Insider-Geschäfte mit Linde-Aktien getätigt zu haben. Reitzle drohte eine Anklage. Die Fusionsgegner begründeten ihren plötzlichen Widerstand mit der Gefahr, dass Reitzle als deutscher Interessenvertreter im neuen Konzern bald ausfallen könnte.

"Man muss ein Insidergeschäft auch beweisen können", heißt es bei der Staatsanwaltschaft

Reitzle schien in der Sache zunächst schlechte Karten zu haben. Er hatte am 16. Juni 2016 begonnen, für eine halbe Million Euro Linde-Aktien zu kaufen. Das Datum war heikel. Es lag zwei Tage nach dem ersten Treffen von Reitzle, dem amtierenden Linde-Vorstandsvorsitzenden Aldo Belloni und dem Praxair-Boss Steve Angel in München. Die drei einigten sich, wie interne Aufzeichnungen der Linde-Anwälte belegen, "die grundsätzliche Machbarkeit einer Transaktion zu prüfen". Der Fall schien klar zu sein. Reitzle hatte offenbar mit neuem Wissen Linde-Aktien gekauft.

Reitzle hatte Glück. Die von der Finanzaufsicht Bafin alarmierte Münchner Staatsanwaltschaft schritt nicht ein. Reitzle habe seinem Vermögensverwalter den Auftrag zum Aktienkauf schon am 23. Mai gegeben, so die Behörde, also vor Beginn der Praxair-Gespräche. "Man muss ein Insidergeschäft auch beweisen können", heißt es bei der Staatsanwaltschaft. Was sagt Reitzle zu diesem Geschäft, das ihm über 36 Prozent Gewinn brachte? "Ich habe die Aktien gekauft, um ein Bekenntnis für Linde abzugeben." Rechtswidriges Handeln? Nein. Er habe sich nie etwas zuschulden kommen lassen: "Ich habe nicht einmal einen Punkt in Flensburg."

Inzwischen scheint der Kämpfer einzusehen, dass es sich doch lohnen könnte, auf seine Kritiker zuzugehen. Vorsichtig rudert er zurück und beginnt, die Arbeitnehmer verstärkt mit Worten zu streicheln. Er sei "für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben", sagt er und gibt sich konziliant: Er werde nicht aufgeben, mit den Arbeitnehmervertretern zu sprechen und mit ihnen Frieden zu schließen. "Natürlich wäre es mir lieber, die Zweitstimme vermeiden zu können." Die Einsicht kommt spät.

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